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Autonomie Basisdemokratie solidarische Wirtschaft Soziale Ökologie

Aus der Komfortzone kommen und ohne Kapitalismus leben

Das Netzwerk RESC verbindet gleichgesinnte Kollektive, Landwirtschaftskooperativen, Volksversammlungen, Bildungsgruppen und weitere Gruppen in Frankreich. Das Ziel: Alternativen aufbauen, um eine postkapitalistische Gesellschaft bereits im Jetzt zu leben.

Es gibt bereits viele Beispiele für kommunalistische Kultur und Praxis – sie miteinander zu vernetzen, ist die Absicht des Réseau Écologie Sociale et Communalisme (Netzwerk Soziale Ökologie und Kommunalismus, RESC) in Frankreich. In ihrem Grundlagentext (“feuille de route”) rufen sie alle Gruppen, in ihren jeweiligen Territorien, dazu auf sich zu konföderieren.

Rund zehn Gruppen haben sich bereits zusammengeschlossen, darunter Einwohner*innen-Initiativen, Versammlungen1, Landwirtschafts- oder Bildungsprojekte. Der Aufruf zur Vernetzung richtet sich auch an antipatriarchale Organisationen, an migrantische Solidaritätsguppen oder an die ZAD-Bewegung. Die bei RESC beteiligten Kollektive und Personen treffen sich regelmässig, so steht als nächstes im Mai eine dreitägige Zusammenkunft mit Workshops, Vorträgen und kulturellem Programm an. Im Juli wird das RESC zudem am libertären Treffen in St. Imier (Schweiz) mitwirken.

Die drei Hauptachsen, mit denen sich das RESC beschäftigt, sind:

  • Autonomie (Produktion, Verteilung, Tausch, Geld)
  • Wiederaneignung der Commons
  • populäre Bildung, politische Gegenmacht, konkrete Alternativen

Netzwerk in veschiedenen Regionen aktiv

Wir haben mit Rémy vom RESC gesprochen, der uns etwas genauer erzählt, was es mit dem Netzwerk auf sich hat.

Rémy nennt zwei Initialzündungen, die zur Bildung des RESC geführt haben. Zum einen wurde vor einigen Jahren ein Institut für Soziale Ökologie und Kommunalismus (Institut d’ écologie sociale et communalisme) gegründet, das ein grosses Treffen in Lyon veranstaltete. Laut Rémy haben es einen eher intellektuellen Charakter gehabt und sei weit weg vom Konkreten gewesen. Inzwischen hat es sich aufgelöst. Zum anderen präsentierte der Autor Floréal Roméro sein Buch “Agir ici et maintenant” (“Hier und jetzt handeln”, eine Auseinandersetzung mit den Theorien von Murray Bookchin, 16 €) auf einer kleinen Buchtour.

Rémy arbeitete damals in der Bourgogne, wo er einen libertären Buchsalon führte. Seine Aktivitäten hätten ihn aber nicht befriedigt: Es habe sich alles um Gegenmacht gedreht, aber was ihm gefehlt habe, sei das konstruktive Moment gewesen. Dann sei er auf Floréal Roméro gestossen, der sehr strukturiert aufzeige, wie ein Postkapitalismus im Jetzt konstruiert werden könnte, ohne zu warten.

Auf der Buchtour begegneten sich verschiedene Leute, die ähnliche Ideen hatten und eine lokale Ökonomie aufbauen wollten. So entstand die Idee, ein Netzwerk zu bilden. Die beteiligten Gruppen kommen aus unterschiedlichen Regionen von Frankreich, hauptsächlich aus den Regionen Cévennes, Avergne, Ardèche, Pyrénées, Massif Central, aber auch aus der Bretagne und dem Nordwesten. Ein paar Mal hat sich das RESC bereits getroffen, jeweils mit 30 bis 40 Personen, die an den Diskussionen teilnahmen, jede*r als Vertreter*in ihrer lokalen Kollektive, Kooperativen, Feminismus-, Landwirtschafts- oder Bildungs-Initiativen.

Am erstes Treffen wurde der erwähnte Text “feuille de route” konsensbasiert erarbeitet und im letzten Oktober bildeten sich Arbeitsgruppen, beispielsweise zu Autonomie oder Commons.

Bildung, Gegenmacht und Alternativen

Neben Autonomie und Gegenmacht ist der dritte Grundpfeiler, wie oben erwähnt, wiederum in drei Bereiche geteilt.

1. Populäre Bildung. Hier geht es darum, über Themen, die in der Luft schweben, zu diskutieren. Bildung soll den Menschen zu ermöglichen, sich mittels Reflexion zu bereichern; sie will ihnen Tools und Kenntnisse über Ursachen geben. Sie regt an, darüber nachzudenken, wo wir uns in der globalen und historischen Situation befinden; welche Beziehung wir zur repräsentativen Demokratie haben; welche gesellschaftlichen Änderungen wir vorschlagen. Dazu gehören auch Gesprächsübungen gemacht, bei denen alle die Gelegenheit haben, sich auszudrücken.

2. Antikapitalistische Gegenmacht (“rapport de force”) aufbauen. Rémy gibt zwar zu, dass er nach Jahren des Aktivismus müde ist von vielen Demonstrationen, die wenig Erfolg brachten. Trotzdem sieht er grosses Potenzial in widerständischen Bewegungen wie beispielsweise die Bewegung “Soulèvements de la Terre”.

3. Alternativen auf dem eigenen Terrain konstruieren. Das können beispielsweise Wohnungskollektive oder Produktionskooperativen sein. Rémy sieht in ihnen ein “gesellschaftliches Labor”.

Die Rolle des RESC ist es, die Tools der populären Bildung, die Bewegungen (wie die “Soulèvements de la Terre”) oder landwirtschaftliche Bewegungen) und die Alternativen miteinander zu verbinden.

Experimentieren statt fertige Lösungen

Persönlich hat Rémy das Glück, in einer Kommune zu leben, die bereits eine sehr konkrete Praxis hat. Wenn Besucher*innen kommen, beobachtet er oft, dass sie den Wunsch haben, ihr Leben zu verändern, und darauf warten, dass ihnen eine Lösung präsentiert wird. Er mache ihnen dann jeweils klar, dass die Lösung, die er zusammen mit seinen Bezugspersonen gefunden habe, nicht auch zwingen für sie passen müsse.

Auch “libertäre” Personen hätten viele Reflexe verinnerlicht, die aus der kapitalistischen Kultur stammen, fügt Rémy hinzu. Grössere Schritte zu gehen, beispielsweise auch Materielles zu teilen, sei noch eine hohe Hürde für viele. Anstatt fertige Lösungen zu präsentieren, bevorzugt er “Übungen” und ein “imaginatives Umherschweifen”.

Sein Traum ist es, diese Experimente in eine andere Grössenordnung zu skalieren: Wenn es nicht nur 20’000 landwirtschaftliche Kleinbetriebe gäbe, sondern eine Million, dann könnten sie, als Konföderation, zu einer Kraft werden.

Zurzeit ist das RESC erst im Aufbau und es begreift sich wirklich als ein Netzwerk, das Verbindungen zwischen Gruppen herstellt. Viele der beteiligten Aktivist*innen seien im Bereich Soziale Ökologie oder Kommunalismus tätig, auch wenn sie sich nicht auf Bookchin bezögen, erklärt Rémy.

Eine Website hat das RESC noch nicht, aber es ist geplant, dass Inhalte auf ecologiesociale.ch hochgeladen werden (eine Website in der französischsprachigen Schweiz mit Informationen über Soziale Ökologie), wo auch schon der Text “feuille de route” zu finden ist. Ausserdem gibt das RESC eine zweiseitige Wandzeitung heraus, die an verschiedenen Orten veröffentlicht wird, beispielsweise am öffentlichen Aushang von Gemeindehäusern. Eine Arbeitsgruppe schreibt jeweils einen politischen Text für die erste Seite, auf der zweiten Seite berichten die lokalen Kollektive von ihren Aktualitäten.

Was sagen eigentlich die Bürgermeister (“maires”) in den Gemeinden zu den Aktivitäten von RESC? Manche sind überhaupt nicht interessiert, sagt Rémy, während andere froh seien, dass es in der Region engagierte Kollektive gebe. Neben der Landwirtschaft und der lokalen Ökonomie nennt Rémy ein weiteren wichtigen Bereich, um mehr Leute zu erreichen: eine kulturelle Agenda mit Theater, Konzerten usw.

Kapitalismus bekämpfen, Alternativen aufbauen

Zusammenfassend meint Rémy, dass es schon sehr viele Leute, die sehr gute Arbeit im Sinn der Sozialen Ökologie leisten würden. Aber was sie machen, sei noch nicht genug. Es brauche den Willen, noch einen Schritt weiter zu gehen, das Gereifte noch reifer zu machen (“de maturiser le mature”): “Wir müssen wirklich aus der Komfortzone kommen und ohne Kapitalismus leben.”

Das RESC gehe diesen Weg auf zwei Beinen: einerseits den Kapitalismus bekämpfen, andererseits Alternativen konstruieren.

Aber das braucht alles Zeit, ist sich Rémy bewusst. Es sollte nichts überstürzt werden: Von Tal zu Tal, von Kollektiv zu Kollektiv müssten alle ihren richtigen Rhythmus finden.

Bild: Bastien Sens-Méyé, Cascade au centre du village de Florac (cropped) CC BY-SA 4.0

Infos auf Englisch und Französisch: Roadmap for the Social Ecology and Communalism (SEC) Network/FEUILLE DE ROUTE DU RÉSEAU Ecologie Sociale et Communalisme

1 Beispielsweise in der Gemeinde Florac in den Cévennes gibt es eine ständige Versammlung der Einwohner*innen (“assemblée permanente”).

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Demokratie Gemeinden Partizipation

Gemeinden bauen in Frankreich eine Demokratie “von unten” auf

2020 haben in Frankreich 700 partizipative Listen mit über 12’000 Kandidat*innen an den Gemeindewahlen teilgenommen und zahlreiche Siege errungen. Seither wird in ganz Frankreich mit einer neuen Demokratie “von unten” (une nouvelle démocratie “par le bas”) experimentiert.

Partizipative Gemeinden haben sich 2020 zur Kooperative “Fréquence Commune” zusammengeschlossen und seit 2022 vereint das Netzwerk “Action Communes” über 70 Gemeinden und partizipative Kollektive in Frankreich. In einem soeben erschienenen Artikel in der Zeitung “Le Monde” stellen sie ihre Idee einer partizipativen Demokratie vor.

Seit einigen Jahren sei ein Demokratiedefizit zu beobachten, schreiben die Autor*innen. Die Fünfte Republik werde immer autoritärer und es sei eine Illusion, dass die staatlichen Institutionen demokratisch seien. Überraschenderweise formiere sich der grösste Widerstand gegen diesen Trend nicht in Paris – entgegen den Bildern von den Demonstrationen, die zurzeit die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen – sondern aus den kleineren Städten und Dörfern. In Gemeinden wie Poitiers, Vaour, La Montagne oder La Crèche hätten Einwohner*innen als politische Laien ihre Verantwortung übernommen und würden zu einer lebendigen Demokratie beitragen. Sobald sie “das Rathaus gewonnen” hätten, würden diese partizipativen Gemeinden nach neuen Methoden suchen, wie Gewählte und Einwohner*innen besser zusammenarbeiten können.

Kreativität ist gefragt, denn die staatlichen Institutionen schränken die politischen Rechte der Gemeinden stark ein und versuchen ihre Eigenständigkeit unter Kontrolle zu halten. Im Artikel werden einige demokratische Instrumente genannt, mit denen die Kommunen zurzeit experimentieren:

  • Auslosung (z. B. von Bürger*innenpanels)
  • Haustürgespräche
  • partizipatives Budget (bzw. “co-construction” des Budgets)

Auch in den Bereichen Sicherheit, Bildung, Klimakrise und lokale Wirtschaft streben sie eine andere Form der “citoyenneté”1 an, also eine neue Rollenverteilung für die Einwohner*innen, für die Gewählten, für die*den Bürgermeister*in. Sie wollen “eine Demokratie, welche der Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit und der Ökologie dient.”

Tag für Tag würden die Gemeinden neue Methoden ausarbeiten, um kollektive Entscheidungen und Einwohner*innen-Initiativen zu fördern und Diskussionsräume zu öffnen: “Denn die Deliberation ist die Grundlage des demokratischen Funktionierens”, heisst es in dem Artikel. Durch diese Tätigkeit gewinnen die Einwohner*innen an Kompetenz, tauschen ihre Argumente aus, prüfen Kontroversen und evaluieren ihre Meinungen, um zu Entscheidungen zu gelangen, die im allgemeinen Interesse sind.

Macht anders verteilen

Folgenden Punkt betont der Artikel besonders: Es geht darum, die Macht zwischen Gewählten, Einwohner*innen und öffentlichen Akteur*innen anders zu verteilen. Das bedeutet, dass die neuen demokratischen Instrumente einen wirklichen Einfluss auf die Politik haben müssen. Die Autor*innen kritisieren die oft marktschreierisch angepriesene Praxis einer angeblichen “Partizipation” und “demokratischen Innovation”, die aber letzlich keine Entscheidungsmacht mit sich bringt. Im Gegensatz dazu würden die erwähnten Gemeinden das Risiko eingehen, “sich auf die populäre Souveränität zu verlassen” – das heisst, dass sie der Bevölkerung zutrauen, wirkungsmächtige Entscheidungen zu treffen.

Konföderation der Kommunen

Auf nationaler Ebene existiere diese Deliberation nicht, kritisiert der Artikel. Weder das Parlament, noch die Gewerkschaften, noch die Demonstrationen könnten eine Lösung bieten, die auf kollektiven Entscheidungen beruhe. Es liege deshalb an den partizipativen Kommunen, eine demokratische Alternative zu den autoritären Vorschlägen der Regierung zu finden.

“Menschen wie du und ich sind die Einzigen, die unsere Institutionen von Grund auf erneuern können”, schreiben die Autor*innen. Somit positionieren sie die Kommunen als Gegengewicht zum Nationalstaat: Wenn sie sich zu einer Bewegung zusammenschliessen („en fédérant“ im Originaltext, also „föderieren“), dann können sie die Regeln des politischen Spiels über den Haufen werfen und neu definieren. Falls es in der Zwischenzeit nicht gelinge, die Verfassung zu ändern, kündigt der Artikel an, so würden sich zu den Wahlen 2026 Tausende von partizipativen Listen in den Gemeinden organisieren.

Vollständiger Artikel (auf Französisch)

Foto: Fréquence Commune

1 Citoyen bedeutet “Bürger*in”, gemeint ist in diesem Kontext aber nicht Staatsbürger*in, sondern Gemeindemitglied. Analog wird das Wort “citoyenneté” (oder englisch “citizenship”) oft mit Staatsbürgerschaft übersetzt, hier sind aber die Mitglieder der kommunalen Gemeinschaft gemeint.

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Ökosozialismus Buchbesprechung Degrowth

Der Shooting Star des Degrowth-Kommunismus

Der japanische Marxist Kohei Saito wird als “Shooting Star” bezeichnet: Eine halbe Million Japaner*innen haben sein 2020 erschienenes Buch “Hitoshinsei no Shihonron” (übersetzt: Kapital im Anthropozän) gelesen. Anfang 2023 ist ein englischsprachiges Buch mit dem Titel “Marx in the Anthropocene”1 erschienen, das auf diesem Werk aufbaut – und ebenfalls auf enormes Interesse stösst.

Kohei Saito spricht sich für Degrowth-Kommunismus aus, also für eine dezidiert linke Auffassung von Degrowth.2 Sein Argument lautet: Der Wachstumszwang im Kapitalismus ist die Ursache für die Klimakrise; ein “grüner” Kapitalismus ist nicht möglich, da Wachstum untrennbar mit dem kapitalistischen Produktionsmodus verbunden ist; die einzige Lösung ist daher, den Materialumsatz, also den “Stoffwechsel mit der Natur”, herunterzufahren.

Saito bricht somit mit dem Produktivismus, der im Marxismus traditionellerweise vorherrschte. Die von Staat und Bürokratie angetriebene Wirtschaftsentwicklung führt nicht dazu, dass sich die Lebensbedingungen verbessern, im Gegenteil – die realsozialistischen Staaten wiesen eine sehr schlechte Ökobilanz auf.

Gegen Produktivismus und Eurozentrismus

Politisch-ideologisch ist das (einfach zu lesende und spannende) Buch eher offen gehalten – und deshalb recht anschlussfähig. Saito spricht von demokratischer, egalitärer Planung, aber beschreibt nicht, wie das genau geschehen soll. Jedenfalls scheint er eine eher antiautoritäre Position einzunehmen.

Die Stärke seiner Argumentation liegt darin, dass er seine Vision von Degrowth konsequent von Marx ableitet. Kohei Saito ist Mitherausgeber der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) und hat sich insbesondere mit den unveröffentlichten Notizbüchern des späten Marx (im deutschen Original!) beschäftigt. Die Textpassagen, die er zitiert, zeigen einen anderen Marx als den früheren, produktivistischen: Der “Riss” zwischen dem natürlichen und gesellschaftlichen Metabolismus (englisch: “metabolic rift”) muss geheilt werden. Es gelingt Saito plausibel, Marx als frühen Vertreter oder zumindest Vordenker des Degrowth-Gedankens darzustellen.

Eine weitere Quelle ist der Brief von Marx an Vera Zasulich, in dem er von seiner früheren Überzeugung abrückt, dass jedes Land aus historischer Notwendigkeit die Stufen Feudalismus-Kapitalismus-Sozialismus durchlaufen muss. Er ist jetzt der Ansicht, dass die russische Agrarkommune (“Mir” oder “Obschina”3) auf direktem Weg zum Kommunismus gelangen könnte. Mehr noch: Er interessiert sich zunehmend, wie aus dem Briefwechsel mit Engels deutlich wird, für archaische, auch nicht-europäische Gesellschafts- und Eigentumsformen (gemeinschaftlichen Landbesitz), beispielsweise für Kommunen in Indien oder die früheren, teutonischen Agrargemeinschaften. Kohei Saito unterstreicht diesen Punkt und hält fest, dass der späte Marx also nicht nur den Produktivismus, sondern auch seinen Eurozentrismus hinter sich gelassen hat. Nicht mehr Europa steht im Zentrrum der Revolution, sondern der Fokus verschiebt sich an die Peripherie.

Wie Kommunismus den metabolischen Riss reparieren kann

Nun ist es nicht neu, Marx als Vorreiter der Ökologiebewegung zu sehen. John Bellamy Foster und andere Ökosozialist*innen haben bereits über die Metabolic-Rift-Theorie geschrieben, ausgehend von Marx’ Beschäftigung mit dem Bodenchemiker Justus Liebig. Kohei Saito baut auf diese Werke auf und geht über sie hinaus, indem er explizit den Degrowth-Gedanken hineinbringt.

Am Schluss entwirft er seine eigene Vision, wie Kommunismus den metabolischen Riss beheben kann und wie eine Degrowth-Gesellschaft aussehen könnte:

1. Der Gebrauchswert wird massgebend, nicht mehr der Tauschwert/Profit.

2. Arbeitszeitreduktion führt dazu, dass das “Reich der Freiheit” für die Menschen ausgedehnt wird.

3. Durch Arbeiter*innenautonomie wird Arbeit attraktiver.

4. Der Marktwettbewerb entfällt, die Wirtschaft entschleunigt sich.

5. Hierarchische Planung und Kontrolle wird abgeschafft. Entscheidungen, auch über ökologische Auswirkungen, werden demokratisch und kollektiv gefasst.

Und all dies könne fast nur mit Degrowth realisiert werden! Degrowth schafft Reichtum ohne Produktivitätszuwachs und sogar bei schrumpfender Produktion, weil er die künstliche Verknappung, die der Kapitalismus inszeniert, aufhebt. Degrowth ist für Saito “radikaler Überfluss des gemeinsamen Wohlstands” (“common wealth”). Alle Menschen würden profitieren: “Wenn erst einmal die künstliche Knappheit des Kapitalismus überwunden ist, hätten die Menschen, jetzt frei vom konstanten Druck, Geld zu verdienen dank des sich ausdehnenden gemeinsamen Wohlstands, eine attraktive Wahl, weniger zu arbeiten, ohne sich über die Verschlechterung ihrer Lebensqualität Sorgen machen zu müssen.”4

Moore, Latour

Als wäre das nicht schon genug Stoff für ein Buch, bietet “Marx in the Anthropocene” im Mittelteil noch mehr interessanten Lesestoff. In weitläufigen Exkursen verteidigt Saito die Metabolic-Rift-Theorie gegenüber Kritikern wie Jason W. Moore; kritisiert Bruno Latour (Akteur-Netzwerk-Theorie, Hybridismus) wie auch den “green modernism”, also Akzelerationist*innen, die sich durch technische Innovationen eine grüne Zukunft erhoffen.

In den ersten Kapiteln erzählt Saito, wie Engels Marx’ Notizbücher unterschlagen hat, weil sie seiner eigenen Vorstellung – er war voll und ganz Produktivist – widersprachen. Auch im Marxismus des 20. Jahrhunderts wurden die ökologischen Sichtweisen von Karl Marx marginalisiert. Anschliessend breitet Saito die Debatte zwischen Monismus und Dualismus auf, also ob Natur und Gesellschaft eher als Kontinuität oder als Diskontinuität aufgefasst werden sollen. Er stellt sich auf einen klar dialektischen Standpunkt: Natur und Gesellschaft bilden eine Kontinuität, aber sind auch klar voneinander getrennt. Ähnlich wie Andreas Malm (den er zitiert) ist Saito für einen Dualismus, aber für einen nicht-kartesianischen (bei Malm: “property dualism”5).

Hervorzuheben ist, dass Kohei Saito einen starken Humanismus vertritt: Das Wohl der Menschen liegt ihm am Herzen. An Moore kritisiert er, dass er den Kapitalismus mit der Hilfe der Natur als “Aktant” überwinden wolle, das gehe aber auf Kosten der menschlichen Entwicklung.

Saito weist zwar darauf hin, dass Marx die “agency” der Dinge anerkannte: In Kapitalismus werden Beziehungen zwischen Menschen durch Beziehungen zwischen Dingen ersetzt, also verdinglicht, als “Fetisch”, wie sich Marx ausdrückte. Aber der Punkt ist, dass das nicht ein Lob auf eine verdinglichte Weltsicht ist (die “hybride Situation”, wie bei Latour etc.), sondern gerade im Gegenteil eine Kritik am Kapitalismus: Marx wollte die Wirklichkeit nicht nur erkennen, sondern ändern!

Wie Saito prägnant formuliert: Wir können nur aus anthropozentrischer Perspektive über die ökologische Krise sprechen, weil es vor allem eine Krise für uns ist – den Insekten und Bakterien ist sie egal. Insgesamt scheint Saito bemüht zu sein, die Balance zu halten zwischen den zwei Optionen a) den Gegensatz Natur-Gesellschaft zu überwinden (Moore betone das zu fest und sei gegen Anthropozentrismus) und b) die Unterschiede zu betonen (Mit Hegel: Wenn die Unterschiede wegfallen, dann ist das wie in der Nacht, wenn alle Kühe schwarz sind.)

Ökomodernismus und Malthusianismus

Weitere Kapitel richten sich wie erwähnt gegen Ökomodernismus (Jeremy Rifkin, Aaron Bastani/Fully Automated Luxury Communism). Auch hier geht das Buch sehr in die Tiefe – die Lektüre ist äusserst spannend und erhellend. Kurz zusammengefasst kritisiert er, dass diese Autoren nicht aus dem “capitalist realism”, aus ihrer Konsument*innen-Perspektive, entkommen. Während eine Post-Knappheits-Position (seine eigene) den Kapitalismus gefährde, perpetuiere der ökomodernistische Produktivismus ihn.

Bemerkenswert ist ferner, wie mutig und locker Kohei Saito mit dem Malthusianismus umgeht. Er kritisiert David Harvey, der Angst davor gehabt habe, dem Malthusianismus in die Hände zu spielen und sich deshalb nicht wirklich getraut habe “grün” zu sein. Harvey habe quasi überreagiert und die Konzepte wie die planetaren Grenzen (planetary boundaries) als konstruiert bezeichnet. Aber das sei gar nicht nötig, findet der optimistische Humanist Saito, weil er anscheinend der Ansicht ist, dass heute die meisten ökologisch Interessierten sowieso gegen Malthusianismus sind. Auch wenn planetare Grenzen als real anerkennt werden – was sich angesichts der Klimakrise aufdränge –, spiele das nicht dem Knappheitsdiskurs und dem Überbevölkerungsmythos in die Hände, beruhigt uns Saito.

Fazit

“Marx im Anthropozän” ist ein überzeugendes Plädoyer für Degrowth. Es könnte dazu beitragen, dass Degrowth – und insbesondere Degrowth-Kommunismus, also eine klar links positionierte Degrowth-Bewegung – an Strahlkraft gewinnt und innerhalb der Umweltbewegung zu einer prägenden Richtung wird. Es schlägt Brücken zwischen der Umweltbewegung und der Arbeiter*innenbewegung. Es erklärt, welche sozialen und wirtschaftlichen Kräfte die Klimakrise antreiben. Es bildet ein Gegengewicht zum “grünen Kapitalismus” und zum “fully-automated” Öko-Modernismus, aber auch zu autoritären Tendenzen. Dabei ist das Buch ist ideologisch sehr offen gehalten und könnte innerhalb des sozialistischen Spektrums breite Sympathien finden.

Die bisherigen Reaktionen im englischen und deutschen Sprachraum reichen von Enthusiasmus bis zu leichter Kritik. Von marxistischer Seite wird etwa kritisiert, dass Saito andere Stränge der Marx-Lektüre und die Entwicklungen im Marxismus nicht berücksichtige6.

Eine generelle Kritik lautet, dass Saito nicht über Strategie redet – es wird nicht klar, wie wir vom Status quo zum Degrowth-Kommunismus gelangen könnte. Eine Antwort auf diese Kritik wiederum könnte lauten, dass er – mit Bezug auf den späten Marx – sehr wohl in aktuelle strategische Debatten interveniert: Er zeigt immerhin, dass wir uns nicht zwischen “Arbeiter*innenrechten, Einkommen und Umweltschutz, oder zwischen indigenen Landrechten und Arbeitskampf”7 entscheiden müssen. Trotzdem – Degrowth-Kommunismus wird nicht einfach “von selbst” kommen. “Das Manifest des Degrowth-Kommunismus muss erst noch geschrieben werden.”8

Eine der grössten Stärken des Buchs ist es sicher, dass es eine plausible, optimistische Alternative zur heutigen, als auswegslos erscheinenden Krisensituation aufzeigt.

Kohei Saito: Marx in the Anthropocene: Towards the Idea of Degrowth Communism, Cambridge University Press, 2023

Weitere empfohlene Buchkritiken von “Marx in the Anthropocene”:

WOZ (deutsch): https://www.woz.ch/2251/kohei-saito/marx-dachte-oekologisch/!V147W650SSPE

Spectrum of Communism (deutsch): https://www.spectrumofcommunism.de/saito-anthropozaen/

Monthly Review: https://mronline.org/2023/03/03/kohei-saito-marx-in-the-anthropocene-towards-the-idea-of-degrowth-communism/

Interview mit Kohei Saito im “Guardian” (28.2.2023, englisch): https://www.theguardian.com/environment/2023/feb/28/a-greener-marx-kohei-saito-on-connecting-communism-with-the-climate-crisis

— Edit: Dieser Text wurde am 19.4.2023 bearbeitet (Fussnote 1) —

1 “Marx in the Anthropocene” ist als Taschenbuch erhältlich, aber nur auf Englisch. Von „Das Kapital im Anthropozän“ erscheint am 17. August 2023 eine deutsche Übersetzung.

2 Vergleichbare Positionen vertreten u. a. Jason Hickel oder die Autor*innen von “The Future is Degrowth” https://netzwerkkommunalismus.wordpress.com/2022/07/01/die-zukunft-ist-degrowth/

3 Auch der Kommunalist Murray Bookchin bezieht sich auf die basisdemokratisch verwaltete “Obschina”.

4 Vieles klingt ähnlich wie bei Bookchin (z. B. in dessen Buch “Post-scarcity Anarchism”), den Saito aber leider nirgends zitiert.

5 Andreas Malm: The progress of this storm: Nature and society in a warming world, 2017

6 https://www.spectrumofcommunism.de/saito-anthropozaen/

7 https://redflag.org.au/article/thinking-about-ecology-marx-review-kohei-saitos-marx-anthropocene

8 https://mronline.org/2023/03/03/kohei-saito-marx-in-the-anthropocene-towards-the-idea-of-degrowth-communism/

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Buchbesprechung

Glitzer im Kohlestaub

„Glitzer im Kohlestaub“ ist ein nützliches Buch für alle Klimaaktivist*innen und Sympathisant*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung. In kurzen Kapiteln, die kreuz und quer gelesen werden können, erzählt es von Camps und Besetzungen wie z. B. im Hambacher Forst und bringt Themen wie Aktionsformen, Pressearbeit oder Antirassismus auf den Punkt.

Die Herausgeber*innen, das Kollektiv „Zucker im Tank“, betonen bereits am Anfang des Buches, wie zentral der Kolonialismus für die Klimakrise ist. Mit dem Aufkommen des imperialen Wirtschafts- und Machtsystems hat der Prozess begonnen, der dazu führt, dass heute nicht nur das Überleben der Menschheit gefährdet ist, sondern auch dazu, dass die negativen Auswirkungen der Kimaerwärmung extrem ungleich verteilt sind. Genauso alt ist jedoch der Widerstand. Auf jeder der über 400 Seiten führt das Buch deshalb unten am Rand ein Beispiel des antikolonialen Widerstands von 1564 bis heute auf.

Der Themenkomplex Kolonialismus/Rassismus/weiss*-Sein zieht sich weiter, etwa in Form der ernüchternden Feststellung, dass rassistisches Verhalten leider auch in der Klimabewegung verankert sind, wie das Beispiel von Fridays for Future in Deutschland zeigt. Auch die Medien reproduzieren diese Muster, indem sie oft BIPoC als Interviewpartner*innen ablehnen, was Klimaorgas vor das Dilemma stellt, ob sie diese Muster durchbrechen oder ob sie in den Medien vertreten sein wollen.

Weitere Kapitel sind dem Ableismus oder der psychologischen Gesundheit im Aktivismus gewidmet. Die Autor*innen legen Wert auf eine intersektionale Betrachtungsweise, was sich auch darin widerspiegelt, dass sie Content Notes anbringen, wenn ein Kapitel beispielsweise Schilderungen von Polizeigewalt und Erfahrungen mit erkennungsdienstlichen Massnahmen (ED) enthält.

Praktischerweise kann jedes Kapitel, je nach Interesse, für sich gelesen werden, wodurch das Buch zu einem nützlichen Nachschlagewerk für eine Vielfalt von Themenbereichen wird.

Camps und Besetzungen

Das Grundgerüst bilden die Storys der Klimaaktionen, Camps, Besetzungen und Bewegungen der letzten 10, 15 Jahre, hauptsächlich im Norden und Westen von Deutschland. Es wird beschrieben, wie die Klimacamps von England nach Deutschland kamen. Die ersten Camps in England konnten an eine Tradition aus den 1990ern anschliessen, als sich Widerstand gegen die Strassenbaupläne in der Thatcher-Ära bildeten. Viele der heutigen Aktions- und Blockadetechniken wurden aus diesen Erfahrungen übernommen. 2010 wurde dann das erste Klimacamp im Rheinland organisiert. Das Buch wirft ausserdem einen Blick auf die vorangehende Umweltbewegung in der DDR.

Spannend wirds dann, wenn beispielsweise eine aktivistische Person in der Ich-Perspektive von der Räumung des sechs Meter tiefen Tunnelsystems im Hambacher Forst erzählt. Interessant ist auch, wie die Entstehung von Fridays for Future mit der basisdemokratischen Organisationsform und den autonomen Ortsgruppen ausgebreitet wird. Nebenbei erhalten die Leser*innen Praxistipps für den Umgang mit Medien, Parteien und anderen Orgas.

In einem Interview schildern Aktivist*innen, wie der Alltag am Rand der Kohlegrube im widerständigen Dorf Lützerath aussah (das leider wenige Monate nach Erscheinen des Buches geräumt wurde). Die Menschen dort hätten versucht, die „Utopie einer Gesellschaft ohne Unterdrückung und Ausbeutung“ vorzuleben und zu zeigen, dass ein „gutes Leben für alle“ möglich sei. Eine solidarische Landwirtschaft sei aufgebaut worden, es seien dauerhafte Wohngemeinschaften entstanden und der Wille zum Widerstand sei spürbar gewesen.

Viele Aktionsformen

Wertvoll sind die eingestreuten theoretischen Exkurse, zu Themen wie “Mit der Presse sprechen” oder zu direkter Aktion und zivilem Ungehorsam. Ein Kapitel erörtert relativ umfassend das Thema Gewalt versus Gewaltlosigkeit und legt verschiedene Aspekte dar. Die Autor*innen stellen sich eher auf den Standpunkt, dass der Gewaltbegriff als Herrschaftsinstrument verstanden werden sollte. Gewaltfreiheit und die Einteilung in “gute” und “schlechte” Aktivist*innen sei unter Umständen eine sehr eurozentrische Position. Das Fazit geht in die Richtung, dass sich Aktivist*innen – mit solidarischem Blick über den Tellerrand – gegen Spaltungsversuche wehren sollten.

Ein konkretes Beispiel für eine solche solidarische Kritik gibt das Kapitel über Extinction Rebellion. Diese Organisation ermögliche zwar einen niederschwelligen Einstieg in den Aktivismus (was gut ist), aber sie habe auch ihre problematischen Seiten (ohne dass sie deshalb als Ganzes abgelehnt werden muss). Die Hauptkritik lautet, dass XR radikale Aktionsformen anwendet, ohne radikale Inhalte zu vermitteln.

Klare Worte findet das Buch zu Scheinlösungen für die Klimakrise, etwa zu „Brückentechnologien“ wie LNG (Flüssiggas) oder zu CDR (technische Lösungen zur CO2-Entnahme aus der Atmosphäre). Zu CO2-Kompensationen wird angemerkt, dass es – neben grunsätzlicher Kritik am tatsächlichem Nutzen – den Menschen im globalen Norden nicht zusteht, Land in anderen Teilen der Welt für den Ausgleich des eigenen Überflusses zu beanspruchen.

Eine wirkliche Lösung kommt nicht um eine neue Wirtschaftsweise herum, die Grundbedürfnisse erfüllt, statt von Profit und Wachstumszwang getrieben zu werden.

Commons, Organisierung, Gemeinschaft weben

Das Kapitel über die Commons stellt sich klar gegen Reformismus und Staat und öffnet revolutionäre Perspektiven, wie eine zukünftige, klimafreundliche Gesellschaft erreicht werden könnte: “Wir brauchen daher starke soziale Bewegungen, die den öffentlichen Diskurs und das Krisenbewusstsein beeinflussen können, die Menschen Angebote machen, sich zu organisieren, Commons zu bilden und sich für eine andere Gesellschaft einzusetzen.”

Das Kapitel „Anarchie in Aktivismus und Alltag“ stellt klar, dass anarchistische Organisierung nicht erst in der “grossen Revolution” entstehen wird, sondern dass es darum geht, einen anarchistischen Umgang schon jetzt im Kleinen zu erproben: mit Bezugsgruppen, im Bereich der reproduktiven Arbeit, im Umgang mit Geschlecht usw.

Dazu passt auch der Rückblick auf den Besuch der Zapatistas in Berlin im Jahr 2021. Die Autor*innen nehmen unter anderem die Anregung mit, sich aus der Vielfalt heraus zu organisieren, den Aktivismus zu territorialisieren und zu humanisieren, also sich Zeit nehmen, Gemeinschaft zu weben, auch mit den schönen Momenten wie Essen und Tanzen.

Mit den erwähnten Kapiteln ist die Liste der Themen noch lange nicht fertig. Auf den über 400 Seiten gibt es jedesmal, wenn mensch das Buch zur Hand nimmt, viel zu entdecken – direkt aus der Praxis und aus erster Hand.

Zucker im Tank (Hg.): Glitzer im Kohlestaub – Vom Kampf um Klimagerechtigkeit und Autonomie, Assoziation A, Berlin/Hamburg, 2022

Buchbeschrieb des Verlags Assoziation A

Weitere Infos zum Herausgeber*innenkollektiv: zuckerimtank.net

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Buchbesprechung Kommunalismus Philosophie

Die Wichtigkeit des dialektischen Denkens für die Linke des 21. Jahrhunderts – Hegels Einfluss auf Bookchin

Herrschaft, Staat und Zentralmacht sind keine historische Notwendigkeit, sondern können überwunden werden. Der kanadische Philosophieprofessor Éric Martin beschreibt, wie Murray Bookchin der Dialektik von Hegel folgt und sie zugleich auf eine höhere Stufe hebt – als kohärente Theorie für eine rationale und ökologische Gesellschaft.

Im kürzlich erschienenen Buch “L’héritage de Hegel / Hegel’s legacy” (hrsg. von Kaveh Boveiri) untersucht Éric Martin in seinem 17-seitigen Beitrag den Einfluss von Hegel auf das Werk von Murray Bookchin1. Bookchin bezieht sich explizit auf eine dialektische Konzeption der Vernunft. Doch bei ihm wird die historische Versöhnung zwischen Freiheit und objektivem Geist, die Hegel verspricht, nicht durch den rationalen Staat realisiert, sondern als doppelte Vermittlung durch Kommune und Konföderation2.

Die Harmonie zwischen Gesellschaft und Natur lässt sich nur herstellen, wenn auch in der Gesellschaft Harmonie und Gleichheit vorhanden ist. Das impliziert laut Éric Martin, dass die verschiedenen Logiken der Herrschaft infrage gestellt werden müssen.

Die Idee der Herrschaft über die Natur wurde möglich durch eine Kultur der Herrschaft in der Gesellschaft – im Widerspruch zur konventionellen Erklärungs, dass es Knappheit und Not sind, die eine hierarchische Organisationsform notwendig machen, um die Natur zu bändigen. Deshalb ist es unmöglich, die ökologischen Probleme zu lösen, wenn nicht die sozialen Herrschaftsbeziehungen hinterfragt werden, aus denen sie hervorgehen.

Diese Kultur der Akzeptanz von Herrschaft hat nicht immer in menschlichen Gesellschaften existiert und ist schon gar nicht eine historische Notwendigkeit oder etwas, das zur “Natur” oder “Essenz” des Menschen gehört. Nein, sie ist durch historische Zufälle und Wendungen zustande gekommen – und kann deshalb auch von Menschenhand überwunden werden.

Eine Gegengeschichte des Widerstands

Murray Bookchin erzählt eine Gegengeschichte des Widerstands, eine Geschichte einer kumulativen revolutionären Tradition, die eines Tages eine rationale, ökologische Gesellschaft hervorbringen könnte, das heisst, die ökozidäre Irrationalität der kapitalistischen Gesellschaft hinter sich lassen könnte.

Eine rationale, ökologische Gesellschaft würde laut Éric Martin nicht nur den Kapitalismus zerstören, sondern jede Form der Herrschaft zurückweisen, vor allem das Patriarchat. Insbesondere würde sie die Form des Staates hinter sich lassen und die Macht der Kommune reaktivieren: direkte Demokratie, praktiziert in dezentralen Versammlungen (“assemblées populaires”) auf Gemeindeebene.

Nicht nur die Politik würde demokratisiert und dezentralisiert, auch die Wirtschaft würde munizipalisiert im Sinn der Selbstverwaltung. Bei Bookchin kommt die Nuance dazu, dass die demokratische Wirtschaft nicht nur in den Händen der Arbeiter*innen einer Fabrik liegt, sondern auch in den Händen der lokalen Versammlung.

Wie Hegel geht Bookchin davon aus, dass Freiheit nicht unmittelbar zustande kommt, sondern durch Institutionen vermittelt werden muss. Doch bei Bookchin erfüllt nicht der Staat diese Funktion, sondern die Konföderation der kommunalen Versammlungen.

Die historische Entwicklung zeigt eine Spannung zwischen dem anti-hierarchischen, dezentralisierten Pol (kommunalistisch) und dem hierarschisch-zentralisierten Pol (etatistisch). Die anti-hierarchische, revolutionäre Tradition zieht sich wie ein “schwarzer Faden” durch die Menschheitsgeschichte, von der athenischen Demokratie über die Levellers und Diggers in der Englischen Revolution und die Sektionen in der Französischen Revolution bis zur Kommune von Paris (und darüber hinaus bis zu heutigen revolutionären Bewegungen).

Analog zu Hegel sucht Bookchin “die Vernunft in der Geschichte”, aber nicht im Hinblick auf den vernünftigen Staat, sondern im Hinblick auf anti-hierarchische, libertäre Elemente. Er stellt der Geschichte der Herrschaft, die im “von oben” aufgezwungenen Staat und im Kapitalismus gipfelt, eine Geschichte “von unten” entgegen: eine Geschichte der Selbstverwaltung und des Widerstands gegen zentralisierte Macht.

Der Widerspruch zwischen dem Was-ist und dem Was-sein-sollte

Bookchin unterscheidet zwischen formaler Vernunft und dialektischer Vernunft. Formale Vernunft beschreibt nur, was gegeben und klassifiziertbar ist; dialektische Vernunft versucht die Geschichte als Entwicklung von latenten Potenzialitäten zu verstehen.

In der Geschichte zeigt sich ein dialektischer Widerspruch zwischen Ideen der Freiheit und Zentralmacht/Herrschaft/Staat. Diese Geschichte trägt aber die latente Potenzialität in sich, dass irgendwann eine Gesellschaft hervortritt, die rational organisiert ist, vermittelt durch kommunalistische Gegen-Institutionen.

Bookchin kritisiert gleichsam die Theorie einer mechanischen, notwendigen Abfolge von Gesellschaftsstufen (Sklaverei – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus), die kaum Spielraum für die Spontaneität des politischen Handelns lässt. Diesem Geschichtsverständnis stellt er eine rationale, dialektische, aber “offene” Geschichte entgegen. Geschichte ist für ihn ein fortschreitender, kumulativer Prozess, in der die Vernunft zur Reife gelangt. Auf Grundlage dieser Geschichte-als-Prozess lassen sich zudem ethische Urteile fällen: Ethisch ist, was an diesem Vernünftig-Werden teilhat.

Éric Martin weist ferner darauf hin, dass Bookchin Hegels “theologische” Konzeption des Absoluten zurückweist und Hegel vorwirft, dass er die Ökologie nicht verstanden habe. Gegen Hegels idealistische, anti-naturalistische Dialektik entwickelt Bookchin einen dialektischen Naturalismus3.

Demzufolge endet bei Bookchin die Geschichte nicht mit der Ankunft des absoluten Geistes. In den Worten von Éric Martin: “[Bookchins Geschichtsverständnis] sieht die Phänomene vielmehr als Etappe der natürlichen Entwicklung eines latenten Potenzials an, das immer komplexere Formen des Lebens produziert, die fähig sind, einen immer höheren Grad an Freiheit, Sensibilität, Subjektivität und Handlungsfähigkeit zu manifestieren.

Angetrieben wird dieser Prozess durch den Widerspruch zwischen dem Was-ist und dem Was-sein-sollte; jede Phase dieser Entwicklung ist ein aufhebendes Überwinden und eine Vertiefung des Vorangegangenen. In Hegel’schen Begriffen ausgedrückt: Das An-sich wird nicht durch das Für-sich negiert, sondern zu einem volleren, differenzierteren, adäquateren An-und-für-sich heraufgehoben. Das Implizite wird aktualisiert, wenn es zu dem wird, wozu es gemäss seiner eigenen inneren Logik konstituiert ist.4

Die Geschichte hat somit das Potenzial, zur “Natur, die sich ihrer selbst bewusst wird”5 zu werden: als rationale, ökologische Gesellschaft.

Was hat das mit der heutigen Linken zu tun?

Éric Martin unterstreicht die Wichtigkeit des dialektischen Denkens für die Linke des 21. Jahrhunderts. Das dialektische Denken ermögliche, Klasse, Patriarchat, Rassismus und Ökologie als ein kohärentes Ganzes zu fassen.

Im Gegensatz zu postmodernen Theorien wirft Bookchin nicht das ganze westliche Denken über Bord6, sondern verteidigt die rationalen Aspekte der Aufklärung gegenüber einem neuen Irrationalismus. Die Linke und die ökologische Bewegung sollten das Erbe der dialektischen Vernunft sorgfältig pflegen – und darüber hinaus gehen, indem sie sowohl den Hegel’schen Idealismus als auch den materiellen Reduktionismus überwinden.

“L’héritage de Hegel / Hegel’s legacy” kann bei Presses de l’Université Laval als Buch oder als PDF bestellt werden.

1 Die französischsprachige Plattform ecologiesociale.ch erwähnt den Beitrag in ihrem aktuellen Newsletter.

2 Mehr über Kommunalismus und Konföderalismus im Bereich “Literatur/Texte” und in diesem Essay: https://perspektivesv.noblogs.org/files/2021/04/Bookchin-M-Die-Bedeutung-des-Konfoederalismus-1990.pdf

3 Siehe auch Bookchins Buch “The Philosophy of Social Ecology”.

4 Anmerkung: Das ist keine teleologische Auffassung, denn es ist nicht gesagt, dass das Implizite zwingend aktualsiert werden muss. Bookchin verwendet eher den Begriff “Entelechie”, der bei ihm eine innere, strukturelle Logik meint, die die Entwicklung eines Dings antreibt.

5 Eine Formulierung, die Bookchin von Johann Gottlieb Fichte übernimmt.

6 Obwohl sein eurozentrischer Blick zurecht kritisiert und aufgearbeitet werden muss.

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Autonomie Basisdemokratie Stadtteilarbeit

Stadtteilarbeit: Gespräch mit Berg Fidel Solidarisch

Stadtteilarbeit ist eine relativ neue Strategie, die in ausserparlamentarischen linken Bewegungen auf grosses Interesse stösst. Im folgenden Text berichtet die Organisation «Berg Fidel Solidarisch» von ihren Erfahrungen und klärt einige offenen Fragen.

Aus der «linken Bubble» ausbrechen und die Menschen dort erreichen, wo sie leben – das ist der Ansatz der «Stadtteilarbeit», auch «Basisorganisierung» genannt. Die Idee ist, sich auf einen bestimmten Stadtteil, auf ein Quartier, zu konzentrieren und dort aktiv zu werden, wo verschiedene Unterdrückungsmechanismen in der Lebensrealität der Menschen aufeinandertreffen: Armut, hohe Mieten, Gentrifizierung, feministische Kämpfe, Probleme am Arbeitsplatz oder mit Ämtern.

Mit Haustürgesprächen und an Ständen können Kontakte hergestellt und herausgefunden werden, was die Anliegen der Stadtteilbewohner*innen sind. Das Ziel ist, dass daraus regelmässige Treffen und selbstorganisierte Strukturen entstehen, mit denen die Menschen im Quartier ihre Situation konkret verbessern können. Dahinter steht aber auch eine übergreifende Perspektive: dass aus den vielerorts aufkommenden Lokalgruppen eine grosse Bewegung wird, die eine «Gegenmacht von unten» darstellt – eine revolutionäre Perspektive, die grosse Ähnlichkeiten mit Kommunalismus/Munizipalismus, den Zapatistas oder auch Rätekommunismus aufweist.

In letzter Zeit bilden sich immer mehr Gruppen, die einen solchen Ansatz verfolgen. 2016 fand in Münster die Strategiekonferenz «Lasst uns reden» statt, 2017 in Berlin der Kongress «Selber machen». In der Schweiz hat sich in Basel «Kleinbasel Solidarisch» gegründet und auch in anderen Städten wird über das Thema diskutiert. Vor allem dank dem Buch «Revolutionäre Stadtteilarbeit» (2022) sind breitere Kreise auf die Stadtteilarbeit aufmerksam geworden.

Auch Berg Fidel Solidarisch gibt in dem Buch ein Interview. So ist z. B. zu erfahren, dass sie gemeinsam mit Mieter*innen für bessere Wohnbedingungen kämpfen – gegen LEG, den zweitgrössen Immobilionkonzern Deutschlands – und dass sie unter anderem eine feministische Arbeitsgruppe aufgebaut haben. Nach der Lektüre des lesenswerten Buches beiben trotzdem einige praktische und theoretische Fragen offen. Wir haben versucht, diese in einem Gespräch mit einem Aktivisten von «Berg Fidel Solidarisch» in Münster zu beantworten.

Was war der Auslöser – konkrete Probleme im Stadtteil oder eine übergeordnete Strategie?

«Wir haben nach Wegen gesucht, wie wir ander Politik machen können», erzählt Jan. Er kommt aus der radikalen Linken, die 2016 Teil der Strategiediskussion in Münster war, seitdem sind einige Aktive zu der Initiative gestossen, sowohl aus der Linken als auch aus dem Stadtteil selbst. Die Initiative «Berg Fidel Solidarisch» ist also nicht wegen konkreter Problme vor Ort entstanden. Der Ausgangspunkt war vielmehr ein strategischer Gedanke. Und es sei kein Zufall gewesen, dass sich die Gruppe genau zu diesem Zeitpunkt gebildet habe, fügt Jan hinzu: «Die Revolution in Rojava war ein Bezugspunkt.» Über die Thematik Rojava seien sie übrigens auch mit Bookchin und Kommunalismus in Berührung gekommen, fügt er hinzu.

Ist es denn «authentisch», wenn Aktivist*innen von aussen in ein Quartier gehen und den Bewohner*innen sagen, wie sie «Selbstorganisation machen» können?

Jan antwortet auf diese Frage, dass die neue Gesellschaft halt nicht von alleine kommt, sondern dass man daran arbeiten muss. Das kapitalistische System verhindere dies durch Individualismus, Vereinzelung und Konkurrenz. Zudem ist das «Aussen» eine Illusion: «Uns verbindet das Bedürfnis nach einer anderen Art zu Leben und uns verbinden auch die Erniedrigungen im kapitalistischen System. Das bedeutet nicht, dass wir alle gleich sind, aber diese Gemeinsamkeiten sind stark.»

Das Argument, dass eine bestimmte Form von Aktivismus «nicht authentisch» sei, komme oft. Jan entkräftet es mit dem Verweis auf den demokratischen Anspruch: Es gehe ja darum, die Leute demokratisch einzubinden. «Dazu müssen wir zuerst Räume eröffnen, wo Demokratie stattfinden kann.»

«Von unten» ist für Berg Fidel Solidarisch eine zentrale Formel: «Wir schauen, welche Themen und welche Ängste da sind. Wir sehen, wo die Interessen liegen, und bringen die Leute zusammen», so Jan. «Immer mit einer solidarischen und klassenkämpferischen Ausrichtung.»

Als sich die Aktivist*innen entschlossen haben, ihre Kräfte auf einen Stadtteil zu konzentrieren, suchten sie sich bewusst Berg Fidel aus. Die Frage «Wo sind die Leute, die das grösste Interesse an Veränderung haben?» stand hinter dieser Entscheidung. Bei Befragungen an Infoständen und beim «Haustürklingeln» erfuhren sie, was die Leute beschäftigt, etwa Probleme mit dem Arbeitsamt, die Mieten, Armut, Vereinzelung, aber auch die Sinnhaftigkeit im Leben. Daraus entwickelten sich verschiedene Praxen, etwa der Kampf gegen die LEG. «Oder manche brauchen einfach ein gemeinsames Frühstück, um miteinander in Kontakt zu kommen, fügt Jan hinzu.

Auf einer anderen Ebene war der Entscheid für Berg Fidel auch ein strategischer. Da die Aktivist*innen zahlenmässig nicht gross waren, wollte sie da anfangen, wo es am erfolgversprechendsten war. Wenn die Bewegung dann wächst, können auch andere Orte und Zielgruppen in Betracht gezogen werden. «Wenn wir hier Erfahrungen und Erfolge sammeln, können wir auch anderswo selbstbewusster auftreten», sagt Jan.

Zur Organisationsform

Organisatorisch ist Berg Fidel Solidarisch schon ein bisschen weiter als zur Zeit, als sie für das Buch interviewt wurden. Es wurden verschiedene Ebenen der Beteiligung geschaffen, die berücksichtigen, dass Leute, die arbeiten müssen oder Familie haben, nicht an jedes Treffen kommen können, und andere, wie Studierende oder Arbeitslose, mehr Zeit haben.

Strukturell ist Berg Fidel wie folgt aufgestellt:

  • Entwicklungstreffen alle zwei Wochen (für die Initiativekräfte)
  • Aktiventreffen alle zwei Wochen (für die Aktiven)
  • mehrere Kommissionen
  • regelmässige Vollversammlung

Grosse Themen werden bei der Vollversammlung gemeinsam besprochen, es ist aber nicht der Anspruch, dass alles von allen mitentschieden werden muss. Daher ist es wichtig einen gemeinsamen inhaltlichen Rahmen zu haben, innerhalb dessen dann Entscheidungen getroffen werden können.

Wie geht ihr mit Rassismus, Sexismus usw. in euren eigenen Reihen und im weiteren Umfeld um?

In den Grundsätzen stehe drin, dass gewisses Verhalten nicht akzeptiert wird. Darauf könne verwiesen werden, um Leute im Zweifel auszuschliessen. «Wir versuchen aber, das möglichst selten anzuwenden und die Leute zu integrieren und eine Veränderung anzustossen», erzählt Jan. «Natürlich können wir aber kein Verhalten akzeptieren, welches andere ausschliesst.» Es sei aber ein Spannungsfeld, in dem sich die Praxis noch entwickle und wo es noch keine mustergültige Lösung gebe. Bei Haustürgesprächen sei es enfacher, eine Linie zu ziehen: «Wenn sie z. B. rechte Sachen äussern, laden wir die nicht an ein Treffen ein.»

Welche Beziehung habt ihr zu Arbeitskämpfen und anderen sozialen Bewegungen?

Berg Fidel Solidarisch versucht aktiv, mit anderen Bewegungen Kontakte zu knüpfen. Das betrifft auch Arbeitskämpfe: Beispielsweise haben sie mit LEG-Arbeiter*innen eine Aktion durchgeführt und sich mit Streikenden im Uni-Klinikum solidarisiert. Jan sieht keine Trennung zwischen Arbeitskämpfen und Stadtteilarbeit: «Hier leben die Leute als ganzheitliche Menschen – sie sind Arbeiter*innen, aber auch Mieter*innen, migrantische Personen, Deutsche und immer mehr als nur dies. Die Idee ist, diese diversen Perspektiven zu verknüpfen, um so zu einer umfassenderen Systemkritik zu kommen und zu einer Vision, in der wir alle Platz haben.»

Ausserdem setzt sich Berg Fidel Solidarisch dafür ein, dass die Stadtteilarbeit als Bewegung insgesamt wächst: «Wir wollen mehr werden!» Es gehe nicht nur um den Stadtteil, sondern darum, eine Bewegung aufzubauen. Unter anderem bestehen intensive Kontakte zu «Solidarisch in Gröpelingen» in Bremen.

Besteht die Gefahr, dass Stadtteilarbeit von Parteien vereinnahmt wird?

Viele Parteien und Politiker haben bereits den Kontakt zu der Initiative gesucht. «Wir sind da immer sehr vorsichtig und haben in unseren Grundsätzen klar dass wir unabhängig von Parteien sind», bemerkt Jan. «Zu Beginn unserer Arbeit hatten einige aus der Nachbarschaft noch ein positives Bild von Parteien, aber es war dann eine wichtige Erfahrung zu sehen, dass sie auf eine andere Weise Politik machen als wir.»

Stadtteilarbeit sei nicht eine einmalige Kampagne, deshalb falle es auf, wenn Politiker*innen zwei Mal kämen – besonders vor den Wahlen – und dann nicht mehr. «Wir sind immer noch da – wir funktionieren nach einer eigenen Logik, und das überzeugt die Leute.»

Wie findet ihr Motivation für eure Arbeit?

Eine Demo zu organisieren führt zu anderen Erfolgserlebnissen, als Stadtteilarbeit zu machen, die oft nach einer anderen Logik funktioniert. Aber es gibt viele kleine Erfolge: «Es ist wichtig zu merken was es für Leute bedeutet, mit ihren Problemen nicht alleine zu bleiben und zu merken dass andere die selben Probleme haben. Und wenn es uns gelingt, dass wir Interessen gegen z. B. die Vermieter durchsetzen können, dann sind das wichtige Erfolge. Das schafft nicht den Kapitalismus ab, aber wir erfahren darin unsere eigene kollektive Macht und durchbrechen die Hoffnungslosigkeit».

Ganz wichtig sei der Prozess der Subjektivierung, also dass die Leute für sich einstehen – und das auch solidarisch weitergeben. «Das gibt uns Kraft und Hoffnung.» Letztlich sei es das: Beziehungen aufbauen.

Bei den aktuellen Preissteigerungen hat sich gezeigt, dass die Formen klassischer Bewegungen nicht in der Lage sind, angemessen darauf zu reagieren. Berg Fidel Solidarisch führte zu diesem Thema eine Versammlung durch, zu der 80 Personen kamen. Laut Jan hat sich an dem Anlass eine gute Dynamik entwickelt, sodass manche Leute zum ersten Mal über das Thema reden konnten und aus subjektiver Position gesagt haben: «Das ist nicht gerecht!» Die Preissteigerung werden auch weiterhin ein heisses Thema bleiben; unter anderem stehen in Deutschland grosse Tarifrunden an, bei denen es um 10 bis 15% mehr Lohn geht.

Zum Schluss eine provokative Frage: Bringt Stadtteilarbeit überhaupt etwas für die Revolution?

«Das muss sich zeigen», äussert sich Jan dazu: «Mit Blick auf die Revolution gibt es keine Gewissheit».

Aber: Berg Fidel Solidarisch ist jetzt seit vier bis fünf Jahren daran, diese Bewegung aufzubauen und die bisherigen Erfahrungen sind vielversprechend und geben Motivation, dass es funktionieren könnte. «Es ist immernoch ein Experimentieren, aber im Stadtteil merken wir unser Wirken: Wir sind mehr geworden und relativ gut verankert. Wir haben gemeinsam wichtige Erfahrungen gemacht und viele haben sich politisiert, das sind für uns Erfolge», so Jan.

Bei der Stadtteilarbeit gehe es immer auch darum, dass durch die einzelnen Aktivitäten die Bewegung insgesamt wächst. Das zeigt sich auch in den entstehenden überregionalen Strukturen, wie z. B. dem Austausch mit Bremen.

«Die Frage ist auch, wie verstehen wir Revolution? Welches Bild haben wir von ihr?», schiebt Jan nach. Wenn das Ziel sei, mit einer kleinen Gruppe die Macht zu übernehmen, dann brauche es keine Stadtteilarbeit. «Wenn wir aber sagen, wir wollen eine Gesellschaft von unten, dann müssen die Leute Erfahrung sammeln mit Selbstverwaltung und Organisation. Dann ist zentral, was wir machen.»

Fest steht: Die Gesellschaft kann nicht in einem einzelnen Stadtteil verändert werden. Aber die Stadtteilgruppen können sich vernetzen, Bildungsstrukturen schaffen und Erfahrungen weitergeben, damit nicht alle von Null anfangen müssen.

Weitere Links zum Thema:

Stadtteilbasisbewegung: Die Konstruktion einer Alternative (Untergrund-Blättle)

Buch «Revolutionäre Stadtteilarbeit» (Unrast Verlag)

Buchbesprechung der Autor*innen (Communaut)

Berg Fidel Solidarisch

Video über Stadtteilarbeit in Berg Fidel

Solidarisch in Gröpelingen (Bremen)

Kiezkommune: basisdemokratische Selbstverwaltung im Hier und Jetzt

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Antirassismus Soziale Ökologie

Antirassismus und Soziale Ökologie

Ausgabe Nr. 2 von “Harbinger: a Journal of Social Ecology” ist dem Thema Rassismus und Kolonialismus gewidmet. Soziale Ökologie kritisiert seit jeher “Rasse” als ein hierarchisches System. Doch die Autor*innen betonen, dass diese Analyse weiter vertieft werden muss.

Murray Bookchin, der Impulsgeber der Sozialen Ökologie, hat als Arbeitskampf-Organizer in den 1940ern die Unterdrückung der mehrheitlich Schwarzen Arbeiter in einer Giesserei in New Jersey miterlebt.1 In den 50ern und 60ern war er im Congress of Racial Equality, einer antirassistischen Bewegung, aktiv. Immer wieder betonte er, dass das malthusianische Narrativ der Überbevölkerung rassistisch ist, und kritisierte die Umweltbewegung scharf dafür. Stattdessen forderte er Wiedergutmachung für die Ressourcen, die Nordamerika und Europa aus den Ländern des Globalen Südens geplündert hatten – eine Forderung, die an die heute vielfach geäusserte Forderung nach Reparationszahlungen erinnert.

Als Theoretiker analysierte Bookchin Formen der Hierarchie und beschrieb mehrfache Diskriminierung, was heute als “Intersektionalität” bezeichnet wird. In einer bekannten Textpassage weist er darauf hin, dass nicht einfach “der Mensch” für die ökologische Krise verantwortlich ist: Unterdrückte Gruppen wissen sehr wohl, dass die Welt entlang von hierarchischen Linien unterteilt ist, und wenn diese ignoriert werden, dann geschieht das auf ihre Kosten. “Schwarze wissen es, wenn sie mit Weissen konfrontiert sind; Arme, wenn sie mit Reichen konfrontiert sind; die Dritte Welt, wenn sie mit der Ersten Welt konfrontiert ist; Frauen, wenn sie mit patriarchalen Männern konfrontiert sind.”2

Obwohl Bookchin oft als “eurozentrisch” kritisiert wird, da er in seinen Büchern vor allem westliche emanzipatorische Traditionen behandelt, liess er sich beispielsweise von der Schwarzen Befreiungsbewegung inspirieren. So erkannte er den Slogan “Black is beautiful” als eine “historisch neue Forderung” für ein gutes Leben, die über die Forderungen der Französischen Revolution weit herausreichten. Vor allen in seinen früheren Schriften bezog er sich oft auf indigene Gemeinschaften.

Bookchin habe seine fundamentale Erkenntnis, “dass die ökologische Krise eine soziale Krise ist”, um eine explizit antirassistischen Analyse erweitert, schreibt Blair Taylor in der Ausgabe Nr. 2 von “Harbinger”. Er weist aber auch auf Leerstellen in seinem Werk hin. Die Kritik, dass Bookchin beispielsweise in seinen Urbanismus-Theorien kaum über Rassismus schreibt, ist nicht neu. Blair Taylor kommt zum Schluss, dass die Soziale Ökologie neue theoretische Erkenntnisse, die Bookchin nicht kannte oder vernachlässigte, inkorporieren muss, aber ohne gewisse problematische Annahmen von heutigen dekolonialen und postmodernen Theorie zu übernehmen, vor denen Bookchin zurecht warnte.3

Kämpfe und Theorie befruchten sich gegenseitig

Ausgehend von den Massenmobilisationen nach dem Mord an George Floyd ist die Ausgabe Nr. 2 von “Harbinger” den Themen (Anti-)Rassismus und Kolonialismus gewidmet. Wie so oft in revolutionären Bewegungen hätten die Kämpfe auf der Strasse ihre theoretischen Inhalte, Rassismus und Abolitionismus4, ins öffentliche Bewusstsein katapultiert – und nicht umgekehrt, schreiben die Autor*innen im Editorial.

Weiter erwähnen sie das wachsende Interesse an Autor*innen der Schwarzen anarchistischen, antistaatlichen Tradition, wie Lucy Parsons, Ashanti Alston oder Modibo Kadalie, aber auch direkte Aktion gegen die Einwahnderungsbehörde ICE und gegen das Grenzregime. Aber auch den Gedanken, anstelle der Polizei die Sicherheit kollektiv selber zu organisieren. Diese Verbindung von “oppositionellen” und “rekonstruktiven” Dimensionen des revolutionären Kampfes überlappe mit der Theorie und Praxis der Sozialen Ökologie.

Die “Harbinger”-Autor*innen stellen schliesslich fest, dass die Soziale Ökologie sowohl wichtige Erkenntnisse für antirassistische Bewegungen bieten kann, als auch sich selber weiterentwickeln muss, indem sie sich mit antirassistischen und antikolonialistischen Kämpfen beschäftigt. Die neue Ausgabe von “Harbinger” sei eine Einladung, solche Ideen quer durch die Bewegungen hindurch zu diskutieren und auszutauschen.

Natur, Wildnis, rassifizierte Medizin und kolonialistische blinde Flecken

Die Autor*innen der neun Essays in “Harbinger” thematisieren ausserdem Ökofaschismus und den Naturbegriff in der Politik; sie zeigen auf, dass Rassismus auch ökologische Auswirkungen hat (anhand der Agglomeration von amerikanischen Städten); sie kritisieren eine Medizin, die auf genetischen und rassifizierten Kategorien beruht; sie beschreiben, wie mit dem Konzept von “Wildnis” indigene Völker enteignet werden. Ausserdem weisen sie auf antisemitische Tropen im Werk von Öcalan hin und vergleichen Schwarze und kurdische revolutionäre Traditionen. Ausblicke auf die Ambiguität des “Homesteading” (Siedlungen, Landsitze) und ein Aufruf, die “weissen” und kolonialistischen blinden Flecken der heutigen munizipalistischen Bewegung zu hinterfragen, runden die Ausgabe ab.

Die Ausgabe Nr. 2 von “Harbinger” kann hier komplett gelesen werden.

1 Harbinger Nr. 2, Blair Taylor: “Social Ecology, Racism, Colonialism and Identity: Assessing the Work of Murray Bookchin”

2 Murray Bookchin, Dave Foreman: Defending the Earth: A Dialogue Between Murray Bookchin and Dave Foreman, 1999, S. 23f.

3 Blair Taylor stellt ausserdem eine Forsetzung seines Essays in Aussicht, die eine auf Sozialer Ökologie beruhende Theorie des Rassismus umreissen wird. (Anmerkung: Der Essay in „Harbinger“ Nr. 2 ist sehr detailliert und kann hier nur ansatzweise skizziert werden.)

4 Abolitionismus im Sinn von “police abolition movement” (zu unterscheiden von Abolitionismus als Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei) ist eine politische Bewegung, die Polizei durch andere Systeme der öffentlichen Sicherheit ersetzen will.

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Kommunalismus Rätesysteme

“Demokratisches Repertoire” in Paris 1871 und Deutschland 1918: Analyse kommunalistischer Praxis

Die falsche Dichotomie zwischen partizipativer und repräsentativer Politik soll aufgehoben werden, sagt Politikwissenschaftler Gaard Kets. Er betrachtet den Kommunalismus nicht als Programm, sondern als Analyse kommunalistischer Praxis. Dieses “demokratische Repertoire” beschreibt er am Beispiel der Pariser Kommune und der Rätebewegung in Deutschland.

Kommunalismus, für sich genommen, ist eine radikale Form der Demokratie – wenn man Kommunalismus als kohärente Ideologie, als Programm darstellen möchte. Der Politikwissenschaftler Gaard Kets von der Radboud-Universität Nijmegen und Mitinitiant des Projekts “Vive la Commune! Communalism as a Democratic Repertoire” wirft einen anderen Blick auf die Thematik. Anstelle eines programmatischen Ansatzes, wie er z. B. bei Bookchin zu finden ist, hat er ein akademisches Verständnis: Ihm geht es um eine beschreibende Analyse von “Kommune”.

Kets untersucht das “demokratische Repertoire”, ein Konzept von Charles Tilly, das in verschiedenen Kontexten angewendet werden kann. Im Gegensatz zu programmatischen Ansätzen sieht er im Kommunalismus “ein Set von Praktiken und Erfahrungen, Theorien und Institutionen”, nicht nur eine praktische Umsetzung eines Programms. Der Vorteil sei, dass die Kommune nicht auf eine Perspektive reduziert werde, sei es die marxistische, sei es die anarchistische, sei es die republikanische.

Rätebewegung in Deutschland 1918

Kürzlich erzählte Gaard Kets von seiner Forschung an einem Vortrag im Rahmen einer Ausstellung zur Pariser Kommune in Münster (organisiert von der Münsterliste). Insbesondere sprach er von der Rätebewegung in Deutschland 1918. Diese habe sich nicht nur gegen die parlamentarische Republik und das Gewerkschaftswesen gerichtet, sondern auch gegen den Bolschewismus, sei also der linkskommunistischen Tradition verbunden. Die Räte waren auch eine Kritik an der SPD und an dem Politikverständnis, das Bookchin “statecraft” (Staatsräson) nennt.

Gaard Kets beschrieb eine Vielfalt an Praktiken: Die politische Form der Räte sollte die Wirtschaft demokratisieren, es gab Soldatenräte, in denen Anerkennung und Würde thematisiert wurde, und es entstanden Stadtteilräte, die zum Teil mit Delegierten mit imperativem Mandat funktionierten. Alles in allem drückte sich die Bewegung in verschiedenen Formen aus, die sich zwischen Rätedemokratie und Parlamentarismus bewegten.

Gaard Kets wies darauf hin, dass die Räte in Deutschland eigentlich sehr exkludierend waren: Es fehlten Frauen und Arbeitslose. Inspirierend sei aber, was “rundherum” passiert sei. Verschiedene Gruppen hätten sich eingebracht, etwa Schriftsteller*innen und Künstler,*innen – und ja, auch Frauenräte habe es gegeben. Verschiedenste Vereine hätte sich als Räte konstitutiert. “Es gab eine Menge Leute, die demokratisch einbezogen werden wollten”, so Kets. Die Bewegung habe einen inspirierenden, experimentellen, chaotischen Charakter gehabt, eine “geordnete Unordnung”, wie schon zuvor in der Pariser Kommune.

Räte und Parlament

Gaard Kets ist überzeugt, dass dieses vielfältige Rätesystem gut mit repräsentativen Formen zusammenpasst. Ein Narrativ des Entweder-oder treffe auf die Deutsche Revolution nicht zu: Die meisten Protagonist*innen, ob in der SPD, USPD oder KPD, seien sich einig gewesen, dass die Frage nicht ein Entweder-oder zwischen Parlament und Räten gewesen sei. Die Räte seien ausserdem in parlamentarischer Form organisiert gewesen, mit Instrumenten wie Motionen, Fraktionen und Ausschüsse. Das habe unter anderem daran gelegen, dass der parlamentarische Diskurs einfach schon länger vorhanden und weiter entwickelt gewesen sei als der Rätediskurs.

Gaard Kets bezeichnete die Situation als “distributed leadership” – ein Begriff aus der politischen Ökologie (Rodrigo Nunes: Neither Vertical Nor Horizontal, Verso, 2021), oder wie es Kurt Eisner in der Münchner Räterepublik beschrieb: eine Demokratisierung des öffentlichen Geistes.

Das kommunalistische Repertoire

Zusammenfassend zählte Gaard Kets einige Punkte aus dem “kommunalistischen Repertoire” vor:

  • Räte entstehen spontan, sind nicht vom Staat oder einer Partei zur Verfügung gestellt.
  • von unten nach oben
  • imperatives Mandat
  • Delegierte jederzeit abberufbar
  • föderalistisch
  • exekutive und legislative Funktion
  • Volksmiliz statt stehendes Heer (ein bekanntes Programm der Sozialist*innen im Allgemeinen, gehört aber auch zum kommunalistischen Repertoire)
  • viele weitere Elemente aus der Marx’schen Interpretation der Pariser Kommune

Neuere Formen des Kommunalismus

Die rein klassenkämpferische Interpretation des Kommunalismus sei nach nach derm Zweiten Weltkrieg aus dem Fokus gerückt, fuhr Gaard Kets fort. In der Praxis sei es zu neuartigen Interpretation gekommen:

  • Frankreich in den 1960er-Jahren: Die Stadt ist der Ort politischer Revolution, nicht der Arbeitsplatz.
  • Die Gilets Jaunes, die eine “Kommune der Kommunen” anstreben
  • Fearless Cities, die weltweite Munizipalismus-Bewegung
  • der Demokratische Föderalismus in Rojava

Diese neuen Erscheinungen seien weit gefasst und offen für verschiedene Interpretationen, meinte Gaard Kets anerkennend – etwas, das der Linken im Allgemeinen zu fehlen scheine!

Wie könnte Kommunalismus in der Praxis aussehen?

Zum Schluss teilte Gaard Kets einige Visionen, wie Kommunalismus in der Praxis aussehen könnte.

1. Die Grenze zwischen global und lokal auf innovative Weise bearbeiten: Es geht nicht bloss um einen Mittelweg zwischen Neoliberalismus und Ethnonationalismus, sondern um einen echten Internationalismus. Das Konzept der Kommune kann eine transnationale, plurale Alternative bieten. Internationale Solidarität und Konzentration auf das Lokale ergänzen sich.

In München gab es übrigens Ideen über eine Zusammenarbeit mit ungarischen Räten, über eine Räterepublik von der Wolga bis zur Donau.

2. Die falsche Dichotomie zwischen repräsentativer Wahlpolitik und partizipativer Politik kann aufgelöst werden. Gaard Kets sieht keinen Widerspruch zwischen direktdemokratischem Engagement (Versammlungsbewegungen wie Occupy, Nuit debout) und der Strategie, repräsentative Institutionen zu besetzen. Beispielsweise habe die Bewegung 15M in Barcelona eine starke Basis in den Stadtteillen mit lokaler Wahlvertretung kombiniert.

3. Die Linke kann nicht einfach Instrumente der Demokratie übernehmen, ohne sie umzugestalten. Arbeitsplatz, Schulen, Unis, Nachbarschaften und Gemeinden können Orte sein, an denen präfigurativ eine zukünftige Gesellschaft vor-gelebt werden kann. Die Pariser Kommune und die Deutsche Revolution können zeigen, wie ein solches vielschichtiges Vorgehen in der Praxis aussehen kann.

Unvollständige Literaturliste zur Pariser Kommune:

Carolyn J. Eichner: The Paris Commune: A Brief History, Rutgers University Press, 2022

Kristin Ross: Communal Luxury, Verso, 2016
Essay aus dem Buch: https://www.versobooks.com/blogs/3169-communal-luxury-kristin-ross

Detlef Hartmann, Christopher Wimmer: Die Kommunen vor der Kommune 1870/71, Asoziation A, 2021

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Buchbesprechung Degrowth Soziale Ökologie

Die Zukunft ist Degrowth

Das Buch “The Future Is Degrowth. A Guide to a World beyond Capitalism” gibt eine umfassende Übersicht über Wachstumskritik, Degrowth-Bewegung und Strategien zur Realisierung von institutionell bis zur Gegen-Hegemonie von unten.

Degrowth wird zurzeit wieder vermehrt diskutiert, nicht nur wegen der gegenseitigen Annäherung von Degrowth-Bewegung und Ökosozialismus, sondern auch wegen der aktuellen Neuerscheinung “The Future Is Degrowth. A Guide to a World beyond Capitalism” (Juni 2022). Es handelt sich um eine expandierte Version des deutschen Originals “Degrowth/Postwachstum zur Einführung” (2019) von Matthias Schmelzer und Andrea Vetter, in Zusammenarbeit mit Aaron Vansintjan.

Degrowth propagiert eine Abkehr davon, dass Wohlstand und Entwicklung mit Wirtschaftswachstum gleichgesetzt wird. Im Gegenteil müssen die nicht nachhaltigen Teile der Wirtschaft wie etwa Ölindustrie und Bergbau schrumpfen, während andere Teile, wie der öffentliche Sektor und Gesundheit, durchaus wachsen dürften. Der exzessive Konsum der reichsten Prozent, vor allem im globalen Norden, muss sinken. Diese Transformation muss auf eine sozial gerechte Weise vollzogen werden, besonders in Rücksicht auf die arbeitende Klasse und die Länder im globalen Süden.

Das Buch “The Future Is Degrowth” analysiert zuerst das Wirtschaftswachstum und die Kritik daran, bevor es eine Übersicht über die verschiedenen Strömungen innerhalb der Degrowth-Bewegungen gibt und Wege aufzeigt, die in eine Degrowth-Gesellschaft führen können. Grob gesagt gibt es fünf Degrowth-Visionen:

– institutionell orientiert

– Suffizienz-orientiert

– Commoning/alternative Ökonomien

– feministische Strömung

– postkapitalistische/globalisierungskritische Strömung

Bezüge zu Bookchin

Die Autor*innen sind klar links und klassenkämpferisch positioniert und kritisieren sowohl rechtsnationalistische Knappheitsnarrative, als auch “grünen Kapitalismus”, individualistische Lösungen und verwässerte, liberale Vorstellungen von einem “Green New Deal”. Sehr umfassend rekapitulieren sie Diskussionen innerhalb der Ökonomie und der Ökologie. In diesem Zusammenhang erwähnen sie auch philosophisch-utopische Traditionen, von William Morris bis zu Ursula K. Le Guin.

Unter anderem beziehen sie sich auf Murray Bookchin, der im Buch mehrmals erwähnt wird, und widmen ein (kurzes) Kapitel der Sozialen Ökologie. Als ökologischer Humanist hat Bookchin einerseits die liberale Idee des Individuums als isoliertes Wesen bekämpft, andererseits Freiheit und Autonomie hochgehalten und Autorität und soziale Hierarchien zurückgewiesen. Er warnte sowohl davor, in einen Natur-Romantizismus zu verfallen, als auch vor dem Produktivismus, also dass die Natur durch Technologie “beherrscht” werden könnte. Mit seiner Sozialen Ökologie legte er dar, wie das ausbeuterische Verhältnis zur Natur von sozialen Machtbeziehungen zwischen Menschen abgeleitet ist, wie Klasse, “Rasse”, Geschlecht, Alter usw.

Schmelzer/Vansintjan/Vetter weisen auf die Verbindung von Naturbeherrschung und patriarchaler, rassistischer und Klassen-Unterdrückung hin, beispielsweise in Form von unbezahlter Hausarbeit von Frauen oder in Form von rassistischen Grenzregimes. Die Überwindung einer hierarchischen Gesellschaft-Natur-Beziehung bildet so die Grundlage, um Herrschaft im Allgemeinen zu überwinden.

Im Kapitel über Degrowth-Visionen führen sie ein schönes Bookchin-Zitat auf, das die Wichtigkeit des utopischen Denkens herausstreicht: “Daydreams are pieces of imagination, they are bits of poetry. They are the balloons that fly up in history.”

Matthias Schmelzer, Aaron Vansintjan, Andrea Vetter: The Future Is Degrowth. A Guide to a World beyond Capitalism, Verso, 2022

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Klimabewegung Philosophie Soziale Ökologie

Bookchin’s Dialektik: Philosophische Grundlagen für die Ökologiebewegung

In “The Philosophy of Social Ecology” widerlegt Murray Bookchin die mechanistische Weltanschauung, der zufolge der Mensch dazu berufen ist, die Natur zu beherrschen und auszubeuten. Bookchin sieht die Natur als eine unaufhörliche dialektische Bewegung hin zu immer grösserer Vernunft, Diversität, Komplexität und Freiheit. Daraus ergibt sich eine ökologische Ethik, die aus der Natur selbst abgeleitet ist. Die Pflicht zum naturverantwortlichen Handeln ist nicht bloss ein subjektives Gefühl, sondern ein Gebot der Vernunft. Die Neuauflage (2022) dieses Werks fällt in eine Zeit, in der alle Kraft aufgeboten werden muss, um die zögerliche Weltgemeinschaft von der Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation zu überzeugen, damit die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels abgewendet werden können.

Die Warnrufe der Klimawissenschaftler*innen werden immer lauter, aber die Antworten darauf sind bestenfalls Greenwashing oder technokratische “Lösungen”, schlechtestenfalls autoritäre Massnahmen wie militärische Aufrüstung und Grenzschutz. Das Buch “The Philosophy of Social Ecology” von Murray Bookchin zeigt einen anderen Ausweg: Es fordert eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft, basierend auf einer natürlichen Ethik, die Freiheit und Demokratie als höchste Werte verteidigt. Es bietet einen Gegenentwurf zum ewigen Wachstumszwang des Kapitalismus, der uns an die Schwelle der Zerstörung gebracht hat, wie Debbie Bookchin, Journalistin, Autorin und Tochter von Murray Bookchin, kürzlich an einer Buchvorstellung sagte.

Der Theoretiker Murray Bookchin geht davon aus, dass die beste Gesellschaftsform eine radikal dezentralisierte Gesellschaft ist, in der Politik auf der elementarsten Ebene stattfindet, nämlich in der lokalen Community. Zwischen Individuen, die sich mit direktdemokratischen Versammlungen organisieren und ihr Leben gemeinsam regeln. Für diese Behauptung, die er in zahlreichen Werken aufgestellt und erläutert hat1, versucht er in “The Philosophy of Social Ecology” eine objektive Grundlage zu finden. Sein Anspruch ist, eine Ethik zu formulieren, die das menschliche Handeln anweisen kann, wenn es darum geht, Entscheidungen über die Organisation der Gesellschaft zu fällen.

Dialektik in der Natur

Die herkömmliche Rationalität mit ihrem mechanistischen Weltbild vermag dies nicht zu leisten. Wenn die Welt nur aus toter Materie im Raum besteht, die, einmal angestossen, ziellos umhertreibt, kann daraus keine Gesellschaftsutopie abgeleitet werden. In dieser Weltsicht fehlt etwas. Bookchin findet das fehlende Element in der Dialektik.

Dialektik heisst, dass der Motor, der das Weltgeschehen antreibt, der Widerspruch ist. Dinge sind nicht nur das, was sie im Moment gerade sind, sondern sie “sind” auch das, was sie werden könnten. Ein Fötus ist nicht nur eine Ansammlung von Zellen, sondern er trägt das Potenzial in sich, zu einem erwachsenen Menschen heranzuwachsen. In der Natur lässt sich überall das Streben beobachten, dass alle Dinge das in ihnen schlummende Potenzial verwirklichen wollen. Das äussert sich sowohl in der Entwicklung von Einzellebewesen als auch in der Evolution als eine Tendenz zu immer grösserer Komplexität, Diversität und Kreativität. Das ist keine ziellose, blinde Bewegung wie im mechanistischen Weltbild, sondern eine gerichtete Bewegung.

Dieses Auf-ein-Ziel-gerichtet-Sein wird auch “Teleologie” genannt und das ist etwas, was in der Naturwissenschaft äusserst verpönt ist. Teleologie besage, so der Vorwurf, dass sich alles zu einem Endziel hin entwickle, das entweder von einem Gott oder durch andere Zwänge vorherbestimmt sei. Nun, Bookchin spricht eben nicht von Teleologie, sondern von Dialektik, und die hat – so wie Bookchin sie versteht – immer einen offenen Ausgang. Mehr noch: Kreativität und Freiheit ist gerade ihr entscheidendes Grundmerkmal. Eine vom Baum gefallene Eichel kann zu einer Eiche heranwachsen oder sie kann auf dem Asphalt verdorren. Evolutionäre Entwicklungslinien können aussterben oder sie können über Verästelungen und Umwege immer höhere Organismen hervorbringen, vom Einzeller über Pflanzen und Tiere bis zu den vernunftbegabten Menschen. Nicht, weil es Gott oder die Vorhersehung so gewollt haben, sondern weil es der inneren Logik der Dinge entspricht – ihrer dialektischen Strukturiertheit.

Widerspruch als Motor des Wandels

Bookchin baut seine Dialektik in der Tradition von Aristoteles und Hegel auf, ergänzt durch den Evolutionsgedanken und eine “organistische” Sensibilität, wie sie bereits durch Philosophen von Diderot bis Hans Jonas beschrieben wurde. Er bezeichnet seine Philosophie als “dialektischen Naturalismus”, um sie einerseits von Hegels idealistischer Dialektik und andererseits vom dialektischen Materialismus von Marx und Engels abzugrenzen. Während Hegel vom “Geist” aus denkt, der sich in der materiellen Welt verwirklicht und im menschlichen Geist “zu sich selbst” gelangt, steht Bookchin klar auf der materialistischen Seite. Alles Übersinnliche lehnt er ab. Genauso lehnt er aber einen vulgären, mechanistischen Materialismus ab, der im Stofflichen nur die leblose Materie2 sieht.

Ein dialektischer Materialismus genügt ihm daher nicht, er fordert einen dialektischen Naturalismus. An Engels “Dialektik der Natur” kritisiert er, dass sie trotz allem auf dem Stand der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts stehengeblieben ist und die dialektische Entwicklung in der Natur zu wenig berücksichtigt.3

Bookchin rehabilitiert übrigens Hegel in gewisser Hinsicht, der – leider bis heute – oft missverstanden wird als ein Verteidiger des Status quo und des preussischen Staats. Bei der Hegel-Interpretation wird oft übersehen, dass Hegel nicht den Ist-Zustand beschreibt, wenn er sagt, dass das Vernünftige das Wirkliche ist. Wie Bookchin erklärt, unterscheidet Hegel zwischen Realität und Wirklichkeit. Realität ist das, was ist; die Wirklichkeit einer Sache ist aber das, wozu sie sich entwickeln kann. Hegel und Bookchin sind keine Philosophen des Seins, sondern des Werdens. Die verdorrte Eichel auf dem Asphalt mag real sein, aber dieser Zustand ist nicht ihre “Wirklichkeit”. Es ist nicht das, was sie sein könnte – und sein sollte.

Todd McGowan, der das Vorwort zur neuen Auflage von “The Philosophy of Social Ecology” geschrieben hat, verdeutlicht das in Bezug auf Bookchins Gesellschaftskonzeption: Die soziale Realität ist, dass wir in einer kapitalistischen, mysoginen, rassistischen Gesellschaft leben. Die Gesellschaft besitzt aber eine untergründige, verdeckte Wirklichkeit, nämlich das Potenzial, egalitär, solidarisch und frei zu sein.

Gesellschaftlichen Wandel erklärt Bookchin – wie Marx – aus dem Widerspruch. Die Gesellschaft ändert sich – wird auf eine höhere Stufe aufgehoben –, wenn der Widerspruch zwischen dem, was sie ist, und dem, was sie sein könnte oder sein sollte, allzu gross wird. Bookchin ist somit durch und durch Revolutionär, nicht nur als Politiktheoretiker, sondern auch als Philosoph.

Der Punkt von Bookchins Philosophie ist laut Todd McGowan, “das Wirkliche im Realen zu erkennen”. Wird das Wirkliche erkannt, kann es realisiert werden und mit ihm zusammenfallen: Aus dem Widerspruch zwischen Identität (der gesellschaftliche Status quo “ist”, d. h. er ist mit sich selbst identisch) und Nicht-Identität (es ist eine andere Gesellschaft denkbar als die, die momentan “ist”) wird eine neue Identität: eine neue Gesellschaft. Phänomene, die noch unvollkommen und unverwirklicht sind, befinden sich in einer dynamischen Spannung mit sich selber, bis sie zu dem werden, wozu sie aufgrund ihrer inneren dialektischen Strukturiertheit zu werden konstituiert sind – das gilt auch für die Gesellschaft.

Debbie Bookchin betont, dass es dabei kein teleologisches Endziel gibt, keine utopische Idealgesellschaft, sondern nur das Potenzial dazu: “Es liegt an den Menschen, rationale Entscheidungen zu treffen und dieser Wirklichkeit zur Realität zu verhelfen.”

Der Platz des Menschen in der Natur

Mit dieser gross angelegten Ethik begründet Bookchin nicht nur seine politischen Visionen. Er liefert gleichzeitig auch ein Fundament für ökologisches Handeln. Sein dialektischer Naturalismus beantwortet nämlich eine grundlegende Frage: In welchem Verhältnis stehen Mensch und Natur zueinander; wo in der Natur hat der Mensch seinen Platz?

Aus der Tendenz zu immer mehr Komplexität, Diversität und Kreativität, die mithin eine Bewegung hin zur Freiheit ist – politische Freiheit in Form von Demokratie und Freiheit in dem Sinn, dass nie vorhergesagt werden kann, in welche Richtung sich die Evolution entwickelt – ergibt sich wörtlich eine “Ökologie der Freiheit”. Der Mensch ist ein Teil der dialektischen Bewegung der Natur, was eine ganz andere Konzeption ist als diejenige des dualistisch-mechanistischen Weltbilds, in der der Mensch klar von der Natur getrennt ist und auf sie herabschaut. Für Bookchin verläuft die Entwicklung von der Natur zum Menschen graduell. Nicht absolut getrennt, aber auch nicht ein mystisches “All-Eins” wie in esoterischen Naturkonzeptionen. (Als Materialist warnt Bookchin davor, die Natur zu mystifizieren.4) Sondern ein Kontinuum mit feststellbaren, graduellen Unterteilungen. Bookchins Naturphilosophie ist eine Beschreibung der sich entfaltenden Wirklichkeit – als natürliche Evolution, die graduell in soziale Evolution und Ethik übergeht.

Die Menschen haben somit eine einzigartige Stellung im Kontinnum der Natur. Als selbstbewusste, vernunftbegabte Wesen sind sie zu verantwortlichem Handeln verpflichtet. Es gilt für sie folglich der Imperativ, die bisherige, kapitalistische Naturausbeutung zu beenden und der Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen: Freiheit für die Natur und gesellschaftliche Freiheit.

Die in der Evolution anzutreffende Tendenz zu mehr Wahlmöglichkeiten, Selbstbestimmtheit und Partizipation ist an sich schon ethisch. Auch wenn diese Prinzipien, wie Mutualismus (Gegenseitigkeit), Freiheit, Intersubjektivität und Selbstorganisation in der Natur nur in Spuren vorkommen, sind sie eine Vorahnung dessen, was in einer ethischen Gesellschaft zur vollen Blüte gelangen könnte.

Eine Philosophie für die Ökologiebewegung

Das gut lesbare, nicht allzu dicke Buch “The Philosophy of Social Ecology” besteht aus fünf Essays, in denen die Thematik verständlich ausgebreitet wird. Zahlreiche weitere Aspekte der Naturphilosophie werden angesprochen, auf die hier nicht eingegangen werden soll, beispielsweise Bookchins Warnung vor allen esoterischen Naturbildern (die in Ökofaschismus kippen können) oder seine Kritik an der Systemtheorie, in der das dialektische Moment fehlt und somit auch die ethische Komponente und die antikapitalistischen Schlussfolgerungen. Einen bedeutenden Einfluss auf Bookchin haben Adorno und Horkheimer5, deren Pessimismus er ins Optimistische kehrt. Wie Todd McGowan im Nachwort andeutet, nimmt Bookchin auch eine Kritik an Theorien wie Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie vorweg, die einem “sentimentalen” Naturbild anhängen und die Rolle verkennen, die der Widerspruch in der Natur spielt.6

Angesichts der Klimakrise, die bereits in Teilen der Welt erbarmungslose Realität ist, kann es sich die Ökologiebewegung nicht mehr leisten, auf wackligen theoretischen Füssen zu stehen. Eine intellektuelle Konfusion kann schädliche Auswirkungen von unmessbarem Ausmass erzeugen, warnt Bookchin. Die Philosophie der Sozialen Ökologie, der dialektische Naturalismus, gibt ethische Richtlinien vor, die heute dringend benötigt werden. Es ist zu hoffen, dass diese Theorien vermehrt in die aktuellen Diskurse einfliessen. Sie können der Ökologie- und Klimabewegung als starke theoretische Grundlage dienen, um für politische Schritte zu argumentieren.

In unserer historischen Situation müssen wir rationale Entscheide treffen. Für Bookchin heisst das, eine rationale Gesellschaft zu erschaffen und die irrationale Gesellschaft, in der wir momentan leben, radikal zu überwinden. Freiheit bedingt Veränderung, Entwicklung, Transformation: Wir müssen vom blossen Sein zum Werden gelangen.

“Eine Gesellschaft, die darin scheitert, ihre Potenziale für menschliches Glück und Fortschritt zu aktualisieren, ist zwar real in dem Sinn, dass sie existiert, aber sie ist nicht wirklich sozial. Sie ist unvollkommen und verzerrt, insofern als sie lediglich weiterbesteht, und daher irrational.” 7

Murray Bookchin, “The Philosophy of Social Ecology – Essays on Dialectical Naturalism”, AK Press 2022

Gespräch mit Debbie Bookchin und Todd McGowan zur Neuerscheinung 2022:


1 Beispielsweise in “The Ecology of Freedom”.

2 Für Bookchin ist Materie nicht tot, sondern lebendig und fruchtbar (“fecund”). Damit meint er jedoch nicht etwas Übersinnliches, sondern einfach eine grundlegende Beschaffenheit von Materie: Sie besitzt eine natürliche Tendenz zur Selbstorganisation, wie sie z. B. an der Schwelle vom Anorganischen zum Organischen sichtbar wird. Es braucht also keinen Gott und keinen “élan vital”, der die Materie beseelt und ihr “autoritär” eine Absicht einflösst, sondern die Materie organisiert sich “demokratisch” selber.

Bookchin bezieht sich auch auf Denis Diderot (“D’Alemberts Traum”) und dessen Vorstellung, dass die Materie eine “sensibilité” besitzt. Bookchin spricht von einer immanenten Fruchtbarkeit der Materie (“immanent fecundity of matter”) und ihrem Drang zur Komplexität (“nisus for complexity”). “Eine Entelechie, die aus dem Wesen, der Struktur und Form der Potenzialität selbst emergiert” (Bookchin 2022, Kapitel “Toward a Philosophy of Nature: The Bases for an Ecological Ethics”, S. 48)

3 Anzufügen wäre, dass seit einiger Zeit versucht wird, Marx ökologisch und evolutionsbiologisch (mit Darwin) zu lesen, wie es beispielsweise John Bellamy Foster tut. Diese Theorien sind sicher zutreffend, reichen aber in der philosophischen Tiefe nicht an Bookchins dialektischen Materialismus heran. Bookchin kritisiert unter anderem auch, dass der (marxistische) dialektische Materialismus wenig mehr getan habe, als mit hegelianischen Begriffen und Konzepten einen szientistischen “dialektischen” Mechanismus zu formulieren. (Bookchin 2022, S. 111, Fussnote 63.) Zur Kritik des Darwinismus siehe ferner: Hans Jonas, “The Phenomenon of Life”, zweiter Essay “Philosophical Aspects of Darwinism”.

4 “Biozentrismus”, Antihumanismus und die Sichtweise, dass Menschen nur “intelligente Flöhe” auf dem Körper von “Gaia” sind, lehnt Bookchin scharf ab. Eine solche “Verehrung” der Natur sei nicht nur eine Entfremdung und Verdinglichung, sondern negiere auch jeglichen Respekt für die Diversität des Lebens. (Bookchin 2022, S. 69) “Als eine Art, über die Realität nachzudenken, ist dialektischer Naturalismus organisch genug, um vagen Wörtern wie Verbundenheit und Holismus eine emanzipierendere Bedeutung zu geben, ohne Intellektualität zu opfern.” (Ebd., S. 17)

5 Insbesondere kehrt Bookchin Adornos und Horkheimers These um, dass Herrschaft über Menschen eine Konsequenz davon ist, dass die Menschen gezwungen sind, die Natur zu beherrschen. Bookchin sagt umgekehrt: Die Idee, die Natur zu beherrschen, entstammt der Herrschaft von Menschen über Menschen.

6 Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dialektischem Naturalismus und Akteur-Netzwerk-Theorie und ähnlichen Richtungen werden ausserdem in folgenden Büchern erläutert: Damian F. White, Alan P. Rudy, Brian J. Gareau: “Environments, Natures and Social Theory” sowie Brian Morris, “Anthropology and Dialectical Naturalism”.

7Alle Übersetzungen: Netzwerk für Kommunalismus