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Wie die Zapatistas „gehorchend regieren“: Lektionen in basisdemokratischer Selbstverwaltung

Auf ihrer „Reise für das Leben“ hat die zapatistische Delegation „Esquadron 421“ auch Basel besucht. Im Camp auf der besetzten Dreirosenanlage haben die sieben Personen ausführlich über ihren Kampf, die Autonomie und Selbstverwaltung in Chiapas erzählt.

Hauptsächlich waren sie gekommen, um zuzuhören. Um zu erfahren, wie die widerständigen Bewegungen Europas, „in ihren eigenen Geografien“1, ihre Kämpfe führen und sich organisieren. Aber in Basel äusserten sie sich erstmals auf ihrer Reise auch inhaltlich. In mehrstündigen Referaten berichteten die sieben Personen – vier Frauen, zwei Männer und eine nonbinäre Person – über ihr Gesellschaftssystem im mexikanischen Chiapas.

Im diesem Artikel soll ihr basisdemokratisches Modell kurz skizziert werden, denn so wie sie von uns lernen wollen, so können auch wir wertvolle Lektionen aus ihrem Besuch ziehen.

Die Zuhörenden im Basler Zapatista-Camp hatten zuerst harte Kost zu schlucken. Die „Compas“ (Genoss*innen) schilderten in allen Details, wie die indigene Bevölkerung Jahrhunderte lang unter den Grossgrundbesitzern litt. Auf dem Papier waren sie zwar frei, aber faktisch lebten sie als Sklav*innen. Ihre Arbeitskraft wurde auf extreme Weise ausgebeutet, mit Produktionsvorgaben, die sie gar nicht erfüllen konnten, sodass sadistische Strafen Alltag waren. Insbesondere die Frauen2 waren auf extreme Weise struktureller sexueller Gewalt ausgesetzt. Aus Erzählungen der Urgrosseltern, Grosseltern und Eltern sind diese grässlichen Zeiten auch in der heutigen Generation noch in Erinnerung.

Nach dem emotional aufwühlenden Einstieg änderte sich die Stimmung allmählich: eine hoffnungsvolle – und kämpferische – Stimmung kam auf, als die sieben Redner*innen auf den Widerstand zu sprechen kamen. Ruhig, überzeugend und sachlich erzählten sie von der klandestinen Organisierung im Dschungel von Lacandona, als sich die Befreiungsarmee EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) formierte. Die langsamen Vorbereitungen und die vielen Gespräche, um die Basis der Gesellschaft zu überzeugen, dauerten über ein Jahrzehnt. Am 1. Januar 1994 kam es zum zwölftägigen Aufstand, in dessen Folge die indigene Bevölkerung gewisse Landwirtschaftsflächen vergesellschaften konnte. Es gibt sowohl (Landwirtschafts-)Kooperativen als auch private Subsitenzwirtschaft in den zapatistischen Gebieten. Verhandlungen mit dem mexikanischen Staat fanden statt, sodass in den zapatistischen Gebieten eine Autonomie entstehen konnte, die aber immer wieder durch vom Staat geförderte Paramilitärs bedroht wird. Auch organisierte Kriminalität und Anhänger*innen des mexikanischen Parteien-Systems („partidistas“) sind Kräfte, die den Selbstverwaltungsstrukturen entgegenwirken.

Wie in den Referaten klar wurde, leben in Chiapas nicht nur 100% überzeugte Zapatistas. In vielen Dörfern ist die Bevölkerung geteilt zwischen Zapatistas und „partidistas“ und in manchen Gegenden besteht die zapatistische Basis aus nur wenigen Einzelpersonen. Insgesamt ist die zapatistische Bewegung jedoch die prägende politische Struktur – und zwar, weil sie funktioniert und die Bedürfnisse der Bevölkerung erfüllen kann. „Am Anfang haben sich die partidistas über uns lustig gemacht, weil sie dachten, wir seien arm, könnten nicht mal lesen und seien nicht fähig, unsere Angelegenheiten zu regeln“, erzählte eine Compañera. Mittlerweile kämen aber selbst Nicht-Zapatistas zu ihnen, damit sie ihnen helfen, ihre Probleme zu lösen.

Das basisdemokratische Modell

In den Referaten wurde deutlich, wie die Zapatistas ihre Politik „von unten“ denken: „Wenn das Volk entscheidet, wie es leben will und was geändert werden soll – das ist Demokratie für uns.“

Das zapatistische Gesellschaftsmodell ist aus Versammlungen und Räten aufgebaut. Anders als im Nationalstaatenmodell steht nicht die Regierung im Zentrum und die Bevölkerung ist nur Befehlsempfängerin, sondern die Macht wird möglichst gleichmässig auf alle Menschen verteilt. Das bedeutet erstens eine Dezentralisierung: Die allerwichtigste politische Einheit in den autonomen Gebieten sind die Dörfer. Auf der lokalen Ebene ist es, wo die wichtigsten Entscheidungen direktdemokratisch getroffen werden, die das Leben der Menschen vor Ort direkt betreffen3. (Die folgenden Informationen stammen zum Teil aus den Referaten, zum Teil aus den Büchern in der Literaturliste.)

Zweitens bedeutet das, dass Politiker*innen nicht elitäre, hochspezialisierte Fachpersonen sind, sondern dass alle Menschen fähig sind, in Politik und Verwaltung tätig zu werden. Wie die Zapatistas in Basel schilderten, ist das politische System reich stukturiert und enthält zahlreiche Versammlungen, Räte, Kommissionen und weitere Ämter. Die Funktionen werden turnusweise besetzt und die Amtsdauer kann nicht verlängert werden, ebenso sind keine Doppelämter erlaubt. Ein Zonenrat kann beispielsweise 24 Personen enthalten, die sich alle zehn Tage in Achtergruppen abwechseln – die genaue Anzahl, Art und Weise ist von Dorf zu Dorf, von Zone zu Zone unterschiedlich und pragmatisch den jeweiligen Begebenheiten vor Ort angepasst4. So wird garantiert, dass sich keine Machtkonzentration und Korruption einschleichen kann und tatsächlich ein sehr grosser Teil der Bevölkerung involviert wird.
Alle Menschen können sich in die Räte und Komissionen wählen lassen und im politischen System mitwirken. Von Zapatistas wird sogar erwartet, dass sie sich politisch engagieren. Ämter werden als „cargo“ bezeichnet, was auch „Last“ bedeutet. Sie bringen keinerlei Privilegien mit sich und sind immer unbezahlt. Einkommensausfälle werden kompensiert, indem politisch tätige Personen Kost und Logie erhalten, von Gemeinschaftsarbeit in den Kooperativen befreit werden oder dass ihnen beim Bewirtschaften ihrer privaten Felder geholfen wird.

Die drei Ebenen: Dorf, Munizipalität, Zone

Das zapatistische Modell gliedert sich in drei Ebenen: Dorf, Munizipalität („municipio“, wird im Deutschen oft als „Landkreis“ übersetzt) und Zone. Die wichtigste Ebene ist die dezentralste: das Dorf. Mehrere Dörfer zusammen bilden eine Munizipalität („MAREZ“ – Municipios Autónomos Rebeldes Zapatistas/Autonome rebellische zapatistische Munizipalitäten) als zweite Ebene. Die dritte Ebene ist dann die Zone.5

Das grundlegende politische Instrument ist die Dorfversammlung (asamblea), an der alle Bewohner*innen teilnehmen können. Für die Verwaltungs-/Regierungsaufgaben („Exekutive“) auf Dorfebene ist ein (basisdemokratisch gewählter) Rat zuständig, dessen Mitglieder „autoridades“ oder zum Teil auch „agentes“ oder „promotores“ genannt werden. Für Spezialbereiche gibt es zudem Kommissionen.
Auf der munizipalen Ebene heisst der Rat „consejo autónomo“. Dessen Mitglieder werden basisdemokratisch aus den Dörfern gewählt und können jederzeit abgesetzt werden (imperatives Mandat). Ausserdem gibt es munizipale Versammlungen (asamblea municipal), die sich aus allen Delegierten der Dörfer zusammensetzen. Auch auf der munizipalen Ebene gibt es, als Unterstüztung für den Rat, Kommissionen für die einzelnen Fachbereiche.

Auf der Eben der Zone gibt es einen Zonen-Rat und eine Zonen-Versammlung (asamblea de la zona oder asamblea maxima, die aus Delegierten der Landkreise und zum Teil auch aus der Dorfebene bestehen) sowie wiederum Kommissionen. In den Zonen befinden sich auch die berühmten „Caracoles“: Ein „Caracol“ ist ein Verwaltungszentrum, zu dem die Ratsmitglieder aus ihren zum Teil weit entfernten Dörfern anreisen und dort turnusweise ihre politische Arbeit verrichten. („Caracol“ bedeutet Schneckenhaus, in Anspielung auf das langsame, aber beharrliche Voranschreiten der zapatistischen Bewegung.)

dritte EbeneZone (mit Caracoles als Verwaltungs-Zentren)Zonenrat (junta de buen gobierno)Zonen-Versammlung
zweite EbeneLandkreis (Municipios, MAREZ)munizipaler Rat (consejo autónomo/municipal)munizipale Versammlung
erste EbeneDorf (pueblos, comunidades)Dorfrat (autoridades locales)Dorf-Versammlung

Jede Ebene hat quasi eine Exekutive (Rat) und eine Legislative (Versammlung) sowie fachspezifische Kommissionen als Unterstützung. Eine separate Judikative gibt es nicht, denn Konflikte werden nicht mit einem westlichen Bestrafungssystem angegangen, sondern lösungsorientiert im Sinn einer regenerativen Gerechtigkeit.6

Zusätzliche gibt es eine unübersichtliche Fülle an zusätzlichen Instrumenten, die einen regen Austausch zwischen allen Ebenen und eine grosse demokratische Kontrolle ermöglichen, beispielsweise aus der Basis gewählte Kontroll-Kommissionen (comisiones de vigilancia). Der Austausch findet horiziontal und vertikal statt, beispielsweise in zusätzlichen Versammlungen, die „reuniones“ und „consultas“ genannt werden.7

Gehorchendes Regieren – mandar obedeciendo

Ein zapatistischer Grundsatz ist das „mandar obedeciendo“, das gehorchende Regieren. Begriffe wie „Autoritäten“ (so werden die Dorfräte genannt) oder „Regierung“ sind in unserem westlichen Kontext oft negativ besetzt. Die Zapatistas benutzen sie aber neutral und betonen ganz stark, dass Regieren nicht Befehlen sein soll. Im Gegenteil: Die basisdemokratisch gewählte Autoritäten haben keinerlei (Entscheidungs-)Macht, sondern setzen nur um, was ihnen die Basis aufträgt. Die Macht ist somit in der lokalen Basis verankert und fliesst von unten nach oben. „Die Autoritäten müssen dem Volk Rechenschaft geben und transparent informieren“, erklärten die Zapatistas im Camp in Basel. „Wenn etwas schief läuft, müssen sie es erklären.“

Ihre Regierung nennen die Zapatistas die „buen gobierno“, die gute Regierung. Damit meinen sie eine Selbstverwaltung, die das Gute für die ganze Bevölkerung will, im Gegensatz zum „mal gobierno“ (schlechte Regierung) des Staates und der traditionellen Parteien, das auf Machtgewinn und Herrschaft ausgerichtet ist.8

In der Praxis heisst das, dass die Räte Vorschläge für Initiativen ausarbeiten und diese den unteren Ebenen unterbreiten – die Entscheide werden aber dann dezentral in den einzelnen Dörfern getroffen. Oft gibt es ein längeres Hin und Her zwischen den Ebenen: Das Feedback aus den Dörfern kommt wieder in die höhere Ebene, ein neuer Vorschlag wird ausgearbeitet und wieder in die Dörfer geschickt. Dieses Hin und Her ist auch ein Teil von dem, was die Zapatistas als „pregundanto caminamos“ bezeichnen („Fragend schreiten wir voran.“).

Eine Referentin im Camp in Basel gab praktische Beispiele für solche Vorschläge („propuestos“): etwa den Aufbau von neuen Kooperativen („trabajos colectivos“) oder wenn Änderungen im Bildungsbereich oder im Gesundheitswesen nötig sind. (Die Bereiche kollektive Landwirtschaft, autonome Bildung – im Gegensatz zur qualitativ schlechten staatlichen Bildung – und kommunale Gesundheitsversorgung scheinen wichtige Alltagsthemen zu sein und wurden von den Referent*innen mehrmals erwähnt.) Wie die Compañera meinte: „Diese propuestos werden in die Dörfer gebracht, es gibt eine Abstimmung, dann gibt es Gegenvorschläge und dann wieder eine Versammlung.“

Zapatistische Prinzipien

Deutlich wurde aus den Referaten auch, dass es nicht „das“ zapatistische Modell gibt, das nach einem fixen Bauplan in allen Zonen umgesetzt werden könnte. Es entwickelt sich über die Zeit hinweg weiter und ist den jeweiligen geografischen Unterschieden angepasst. Die Zapatistas betonten auch, dass sie uns nicht ihr Modell als Lösung aufdrängen wollen: Alle müssen „entsprechend ihren Geografien und Temporalitäten“ ihren Weg finden.

Was aber – neben der formellen Rätestruktur – grundlegend ist, ist ein inhaltlicher Grundkonsens. Dieser äussert sich in einigen Prinzipien:

mandar obedeciendo (gehorchendes Regieren, siehe oben)
preguntando caminamos (Fragend schreiten wir voran; wir kennen nicht schon die perfekte, fixe Lösung, sondern wir entwickeln uns)
un mundo donde quepan muchos mundos (Eine Welt, in der viele Welten Platz haben; grösstmögliche Autonomie in der jeweiligen „Geografie und Temporalität“; eine offene, tolerante Gesellschaft im Gegensatz zur Totalität des nationalstaatlichen und kapitalistischen Systems; viele Arten des Kampfes und Widerstands)

Ausserdem haben die Zapatistas sieben Prinizipen des gehorchenden Regierens aufgestellt, die sehr viel über ihre politische Sichtweise preisgeben:

  • Dienen und sich nicht bedienen. (Servir y no servirse)
  • Repräsentieren und nicht ersetzen. (Representar y no suplantar)
  • Aufbauen und nicht zerstören. (Construir y no destruir)
  • Gehorchen und nicht befehlen. (Obedecer y no mandar)
  • Vorschlagen und nicht aufzwingen. (Proponer y no imponer)
  • Überzeugen und nicht besiegen. (Convencer y no vencer)
  • Nach unten gehen und nicht nach oben. (Bajar y no subir)

Bei diesen sieben Prinzipien wird jeweils die Praxis der guten Regierung der Praxis der nationalstaatlichen Regierung entgegengestellt. Zapatistische Ratsmitglieder sollen nicht die politische Karriereleiter erklimmen und Gelder einstecken, sondern zum Volk hinabsteigen und ihm dienen. Die oberen Ebenen zwingen den Dörfern nichts auf, wie im Staat, wo die Macht von oben nach unten fliesst. Das liesse sich auch gar nicht durchsetzen, weil es kein zentrales Gewaltmonopol gibt – das zapatistische System baut auf Freiwilligkeit auf, deshalb auch die Betonung auf dem Überzeugen. Es gibt keine amtlichen Dekrete, die von den Dörfern umgesetzt werden müssen, sondern Vorschläge (propuestos), die den Dörfern zur Diskussion unterbreitet werden.

Neben diesen Prinzipien gibt es einige „Gesetze“ („leyes“), die aber nur Grundwerte umfassen, die von allen Zapatistas geteilt werden, wie die Frauengesetze oder das Alkoholverbot (Alkohol war/ist in Chiapas für viele Missstände verantwortlich, unter anderem auch Auslöser für patriarchale Gewalt). In den Zonen und municipios gibt es zudem noch weitere Reglemente.

Frauen/FLINTA

Die Referent*innen betonten, dass sie grossen Wert auf das Thema Frauen legen. „Der Schmerz und die Wut der Grossmütter“ seien heute noch lebendig. Leider sei im zapatistischen Modell noch keine 100-prozentige Beteiligung der Frauen erreicht. Manche haben Angst vor den Aufgaben oder hören früher auf, manchmal verbieten ihnen ihre Ehemänner, dass sie sich politisch betätigen.

Eine separate Frauen-Organisation in diesem Sinn gibt es zwar nicht, aber es gibt einzelne Frauenräte (asambleas de mujeres). Diese wählen z. B. eine neue Frau als Nachrückende in ein Amt, wenn eine Amtsträgerin aufhört. Diese Frauenräte haben sich laut den Referent*innen auch über die Zonen hinweg organisiert. Ausserdem gibt es spezielle Frauenkollektiven, die Frauen wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichen.

„Manchmal fehlt es an Selbstreflexion“, sagten die Referent*innen zum Thema Frauenförderung. Wenn eine Frau in der Selbstverwaltung scheitere, dann wirke es manchmal demotivierend auf die anderen. Aber es sei halt ein Lernprozess.

Widerstand in der Praxis

Zum Schluss der über zwei Tage verteilten Referate betonten die Compas, dass ihre Bewegung eine aufständische Bewegung sei, die Widerstand praktiziere. Die staatliche Regierung habe anfänglich ihre Büros zerstört, aber davon hätten sie sich nicht kleinkriegen lassen: „Die Autonomie ist nicht in einem Haus, sondern in unseren Herzen.“ Dann habe die Regierung Paramilitärs geschaffen und es so aussehen
lassen, dass der zapatistische Kampf lediglich ein „Konflikt“ zwischen Indigenen wäre. „Aber wir haben es in der Öffentlichkeit denunziert.“

Ihre „Reise für das Leben“ (gira por la vida) und „Invasion“ von Europa9 ist ebenfalls in diesem Kontext des praktizierten Widerstandes zu verstehen. 500 Jahre nach der „Eroberung“ von Mexiko – was besser gesagt 500 Jahre Widerstand heissen müsste – kommen die Zapatistas für eine „Invasion“ nach Europa.
Es handelt aber nicht um eine autoritäre, kolonialisierende Invasion. Sie wollen uns nicht ihre Weltsicht aufdrängen: „Wir sagen nicht, dass ihr dasselbe machen sollt wie wir.“ Wir alle hätten verschiedene Formen des Widerstandes. Wichtig sei, zu kämpfen und sich zu organisieren. Egal ob Mann/Frau/nichtbinär, egal welche Nationalität, wir hätten alle denselben Feind: das kapitalistische System, das ja auch nicht zwischen uns unterscheide.

Die Compas schlossen mit einem schönen Bild: „Wir bringen euch Samen und wir tragen Samen von euch zurück in unsere Dörfer.“

Anmerkungen

1 In Texten von Zapatistas – ob geschrieben oder gesprochen – fällt auf, dass sie patriarchale, rassistische und nationalstaatliche Konzepte infrage stellen und nach einer neuen, angemesseneren Sprache suchen. So reden sie nicht von Staaten und Grenzen, sondern von „Geografien“. Den Kontinenten, der als „Europa“ bezeichnet wird, haben sie umgetauft in „Slumil K’ajxemk’op“ („widerständiges Land“), und das sogenannte „Amerika“ nennen sie, wie es in vielen soziale Bewegungen mittlerweile üblich ist, „Abya Yala“.

2 In zapatistischen Kontexten wird zwar oft eine nonbinäre Sprache angestrebt, was sich beispielsweise in Ausdrücke wie FLINTA zeigt, aber manchmal wird einfach von Frauen, Männern und Anderen („otroas“) gesprochen. „Wir lernen noch“ heisst es in einem zapatistischen Kommuniqué.

3 Subsidiaritätsprinzip: Alle Entscheidungen sollen möglichst lokal getroffen werden. Geografisch weiter gefasste Körperschaften sollen nur Probleme lösen, die ein einzelnes Dorf allein nicht lösen kann, z. B. weil mehrere Dörfer betroffen sind.

4 Für genauere Infos zum Aufbau der Räte siehe Literaturliste.

5 Dieses konföderalistische Modell „Dorf – Munizipalität – Zone“ ist quasi nach oben offen, d. h. es können theoretisch immer weitere geografische Kreise gezogen werden: Es gibt z. B. Treffen von mehreren Zonen, das wäre dann die vierte Ebene. Auch in anderen Bundesstaaten von Mexiko gibt es Autonomiebewegungen, die zum Teil von Chiapas inspiriert sind; theoretisch könnte dies als fünfte Ebene bezeichnet werden. Denkbar wäre sogar eine Erweiterung bis zur globalen Ebene, also eine „zapatistische Internationale“.

6 Die Zapatistas nennen ihr Gerechtigkeitssystem „la otra justicia“, „die andere Gerechtigkeit“, eine nicht-käufliche Justiz im Gegensatz zur korrupten Staatsjustiz. Die „partidistas“ hätten zuerst darüber gelacht, jetzt kämen sie zu den Zapatistas, damit diese ihre Probleme regeln, war in Basel zu hören. Sanktionen bestünden meistens aus Gemeinschaftsarbeit. (Gefängnis nur bei Mord.)

7 Insgesamt ist das zapatistische Rätesystem ein direktdemokratisches System, das aber auch repräsentative Elemente enthält (siehe Literaturliste, Schuster). Initiativen gehen oft von der Zone oder Munizipalität aus, werden aber auf lokaler Ebene entschieden. Es gibt auch Ausnahmen: Die Versammlungen munizipaler Ebene und in der Zone haben zum Teil von den Dörfern die Befugnis, einzelne Entscheidungen selber zu treffen, wenn die Basis bereits Grundsatzentscheide zum betreffenden Thema getroffen hat.

8 Aufgaben der junta de buen gobierno: Die Zapatistas gaben in Basel einige Beispiele, womit sich die Zonenräte (juntas de buen gobierno) inhaltlich befassen. Ein wichtiger Teil ist die Kontrolle: dass in den zapatistischen Gebieten gemäss den Prinzipien gearbeitet wird, Controlling der Gemeindegelder, Umweltschutz, z. B. Abkehr von Pestiziden, Kampf gegen Schlepperbanden und Marihuana-Anbau, Einhaltung der zapatistischen Gesetze, Überwachung, dass die Arbeitsbereiche aktiv bleiben, z. B. dass regelmässig Kurse durchgeführt werden. Andere Themen sind z. B.: Kunst und Kultur, neue Projekte, wie kann eine Schulerweiterung finanziert werden, welche Bedürfnisse gibt es im Gesundheitsbereich.

Weitere Aufgaben der junta sind: dafür sorgen, dass die Prinzipien, Gesetze und Reglemente eingehalten werden, Projekte fördern, kollektive Entscheidungen umsetzen, das Volk von Ideen, die für alle gut sind, überzeugen, mit Personen des Staates kommunizieren und ihrer Sichtweise unsere Art des Lebens entgegenstellen, schlechte Autoritäten in den Dörfern ansprechen und sanktionieren, die Teilhabe der Frauen auf allen drei Ebenen fördern.

Aufgabe des Volkes ist es hingegen, Autoritäten abzuschaffen, die ihre Aufgaben nicht erfüllen. (Imperatives Mandat)

9 Bei der Landung in Vigo (Galizien) sprach ein*e Compa der Delegation: „Im Namen der Frauen, der Kinder, der Männer, der Ältesten und natürlich der anderen Zapatisten erkläre ich, dass der Name dieses Landes, das seine Eingeborenen heute ‚Europa‘ nennen, von nun an SLUMIL K’AJXEMK’OP heißen wird, was soviel bedeutet wie ‚Ungehorsames Land‘ oder ‚Land, das nicht aufgibt‘. Und so wird sie bei Einheimischen und Ausländern gleichermassen bekannt sein, solange es hier jemanden gibt, der nicht aufgibt, der sich nicht verkauft und der nicht nachgibt.“ https://www.somoselmedio.com/2021/04/17/escuadron-421-la-delegacion-maritima-zapatista/

Literatur

enlacezapatista.ezln.org.mx (Kommuniqués und wichtige Texte der Zapatistas, in der Regel lässt sich die deutsche Übersetzung anklicken)

www.ya-basta-netz.org (Zapatisische Reise / Deutschland)

chiapas.ch (Schweiz)

Simon Schuster: Demokratie des gehorchenden Regierens, Unrast Verlag 2018 (eine Dissertation; das zapatistische Modell durch eine sehr akademische, politikwissenschaftliche Brille gesehen)

Dylan Eldredge Fitzwater: Autonomy Is in Our Hearts: Zapatista Autonomous Government through the Lens of the Tsotsil Language, PM Press 2019 (zapatistische Grundprinzipien erklärt anhand von Konzepten der indigenen Gesellschaft wie „gemeinsames Herz“, „Gemeinschaftsarbeit – Lohnarbeit“ usw.)

ausm.community/escuelita (Lehrbücher, die von den Zapatistas in ihrer „Escuelita“ eingesetzt werden, viele Praxisbeispiele, v. a. in Autonomous Government I und II)

Eine Antwort auf „Wie die Zapatistas „gehorchend regieren“: Lektionen in basisdemokratischer Selbstverwaltung“

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