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Wenn der Stoffdurchsatz ins Unermessliche steigt: ein Buch über Metabolismus und Kapital

Éric Pineault liefert in “A Social Ecology of Capital” (2023) einleuchtende Argumente für Degrowth und gegen Ökomodernismus. Er beschreibt, wie materielle Flüsse durch den Kapitalismus strukturiert werden und zwangsläufig zu einem gigantischen Durchsatz führen, der die Stabilität des Planeten infrage stellt.

Sagte Bookchin, dass alle ökologischen Probleme soziale Probleme sind, so beschreibt Pineault, wie dieser Zusammenhang genau funktioniert. Es geht ihm weniger um das Was, sondern um das Wie. Denn er stellt selber fest, dass seine Grundannahmen unbestritten sind: Seit der “Grossen Beschleunigung” (“Great Acceleration”) ab den 1950er Jahren wird weltweit ein exponentiell wachsendes Mass an Materie und Energie umgesetzt, sodass der Planet und seine Ökosysteme instabil zu werden drohen. Das betrifft insbesondere den Ausstoss an Treibhausgasen. Die Welt steuert angesichts einer Erderwärmung um 2 bis 4,5 Grad auf eine Hothouse-Phase zu, in der grosse Gebiete nicht mehr bewohnbar sein werden.

Es sind gesellschaftliche Strukturen und Praktiken, die uns so weit gebracht haben. Éric Pineault erklärt im Detail, wie diese verhängnisvolle Entwicklung als spezifisches Problem des Kapitalismus verstanden werden kann. Es geht nicht nur um Wachstum (growth), sondern um den Zwang zum Wachstum, zur Akkumulation, zur Überproduktion und zum Überkonsum (die alle miteinander verlinkt sind).

In der Wiener Tradition der Sozialen Ökologie verankert, befasst sich Pineault mit Stoffflüssen, mit dem Metabolismus, der Gesellschaft, Wirtschaft und Natur umfasst. Mit der Werttheorie von Marx, ökosozialistischen Theorien (John Bellamy Foster u. a.) und dem Treadmill-Konzept (Allan Schnaiberg) zeigt er, dass kapitalistische Zwänge in diese Strukturen eingeschrieben sind. Im Unterschied zur Metabolic-Rift-Theorie stellt er nicht so sehr den Riss zwischen Gesellschaft und Natur in den Vordergrund, sondern die Mechanismen, die Stoff- und Energieflüsse steuern und zu Treibern des unendlichen Wachstums, zu Treibern der Grossen Beschleunigung werden. Wie der Buchtitel verspricht, entwirft Pineault die Grundzüge einer Sozialen Ökologie des Kapitalismus. Den Gesellschaft-Natur-Kapitalismus-Zusammenhang versteht er als eine soziale und ökologische Formation, als Metabolismus.

Durchsatz statt BIP

Éric Pineault beschreibt, wie ökonomische Beziehungen als ein “Akkumulationsregime” institutionalisiert werden. Dieses Regime reproduziert die organisierend tätige Kraft des Kapitals stets aufs Neue. Dabei wird Kapital in Form von materiellem “Stock” akkumuliert (das englische Wort “stock” bedeutet sowohl Kapital als auch Lagerbestand), also von Artefakten wie Maschinen, Bauten und Produktebeständen. Diese immer zunehmende Akkumulation wiederum zieht einen immer weiter beschleunigten Stoffdurchsatz nach sich.

Durchsatz ist laut Pineault die geeignetere Grösse, um Umweltauswirkungen zu messen, als das Bruttoinlandprodukt (BIP bzw. auf englisch GDP). Im Fokus steht ein biophysisches Phänomen, nicht bloss ein ökonomischer Prozess.

Mit vielen Diagrammen erläutert er, wie dieses Modell funktioniert. Er verfolgt das Fliessen von natürlichen Rohstoffen von der Extraktion über ihre Inwertsetzung durch Arbeit (Produktion), die Realisierung (Konsumation) bis zur Dissipation, also zur Entsorgung. An allen diesen Punkten wird Kapital akkumuliert – und dieser Akkumulation wird alles andere untergeordnet. Nicht aus “Gier”, sondern aufgrund von Systemzwängen. Und mit besonders aggressiver Wucht in Zeiten des “fossil-industriellen metabolischen Regimes”.

Eingesperrt in fossile Zwänge

Diese Zwänge schildert er mit einleuchtenden Beispielen. So beschreibt er, wie “Lock-ins” entstehen, also der wirtschaftliche Zwang, sich auf bestimmte Technologien und Produktionsmittel und -methoden festzulegen, aus denen die Wirtschaft kaum noch herausfindet. Besonders folgenschwer sind diese Lock-ins im Bereich der fossilen Energierträger.

Wie kommt es zum Lock-in? Am Anfang steht der kapitalistische Konkurrenzkampf – ganz simpel. Jedes Unternehmen muss stetig wachsen, damit es von seinen Konkurrenten nicht aufgefressen wird. Doch die Mechanismen, die dabei ins Spiel gesetzt werden, sind komplex. Ein Unternehmen muss sich nicht nur behaupten, sondern versuchen, die Spielregeln zu seinen Gunsten zu ändern, das heisst aktive Kontrolle über seine Umgebung auszuüben. Je mehr ein Unternehmen wächst, desto grösser wird diese Umgebung und desto mehr Kapital muss es in die Kontrolle stecken – deshalb die zunehmende Kapitalisierung allerorts: Arbeiter*innen werden entlassen, dafür wird in Effizienz investiert. Diese Investitionen müssen aber über eine lange Zeit amortisiert werden, und das geht nur, wenn der Durchsatz quantitativ gesteigert wird (was immer zulasten der Natur ist). Wenn ein Unternehmen erst einmal so viel in seine Maschinen investiert hat, dann wird es sich nachher mit allen Mitteln dagegen werden, dass diese entwertet werden: Innovative Startups, die effizientere oder umweltschonendere Technologien anbieten könnten, werden aufgekauft, und Regulierungen werden mit Lobbying bekämpft.

Im Konsumbereich nimmt das die Form der “geplanten Obsoleszenz” an, also dass beispielsweise ein Smartphone so gebaut wird, damit es nach spätestens zwei Jahren nicht mehr richtig funktioniert und die Konsument*innen ein neues kaufen müssen.

Alles läuft auf Wachstum und Akkumulation heraus, die sich sowohl gegenseitig antreiben, als auch einander bedingen. Sie sind überdies die Ursache von wachsenden Investitionen und Überkonsum, denn der ökonomische Überschuss (“surplus”) muss zwangsläufig absorbiert werden.

Emanzipation ist möglich: Degrowth

Die Schlussfolgerungen aus all dem sind eigentlich banal und logisch: Technische Lösungen und Ökomodernismus gehen am Kern des Problems vorbei, grüner Kapitalismus sowieso, es gibt also nur eins – den gigantischen Material- und Energiedurchsatz massiv reduzieren.

Die Argumente dafür sind derart schlagend, das nach der Lektüre kaum eine Alternative möglich scheint. Jegliche Plausibilität des Gegenarguments, dass eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Durchsatz möglich sein könnte, rückt in weite Ferne.

Obwohl die Wiener Version der Sozialen Ökologie methodisch einen anderen Ansatz hat als Murray Bookchins “social ecology”, teilen die beiden Richtungen neben dem Namen auch eine ähnliche Grundhaltung. Éric Pineault, der Schüler beider Traditionen ist, fügt sie in seinen eigenen Ausführungen mühelos ineinander. Von Bookchin, dessen Andenken er sein Buch widmet, übernimmt er die utopische Hoffnung und die dialektische Herangehensweise. “Éric, wir wissen noch nicht, was der Kapitalismus ist”, sagte der Mentor in den 1990ern zu seinem Schüler. Dass der Kapitalismus und unser Verständnis davon gemäss sozial-ökologischer Theorie keine fixe “Essenz” haben, sondern im Werden begriffen sind, gibt Anlass zu Hoffnung: Eine Gesellschaft ist möglich, die jenseits von kapitalistischer Akkumulation und ihren zerstörerischen ökologischen Beziehungen ist. In diesem Sinn sieht Pineault sein Buch als Beitrag an Bookchins Politik der Emanzipation, angetrieben von der dialektischen Spannung zwischen dem, “was ist” und dem, “was sein könnte”.

Um aus der Tretmühle des Wachstums auszubrechen, müssen wir kapitalistisches Eigentum und kapitalistische Produktionsbeziehungen aufbrechen, aber auch das “fixe Kapital” in Form von fossiler Infrastruktur demontieren und die entsprechenden Lebens- und Arbeitsgewohnheiten ablegen. Unter den Ansätzen für eine soziale Emanzipation erwähnt Éric Pineault einen, der all diese Fragen am gründlichsten untersucht habe: Degrowth (inklusive Degrowth-orientierter Ökosozialismus). Während er es anderen überlasse, Degrowth “zu präsentieren, debattieren und zu verteidigen”, liefere die Soziale Ökologie des Kapitalismus den Rahmen, um die Mechanismen, die es zu überwinden gelte, kritisch zu analysieren.

Éric Pineault: A Social Ecology of Capital, Pluto Press 2023

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