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Assembly: der Keim einer neuen Demokratie

Soziale Bewegungen nutzen das Instrument der Versammlung (assembly), um gemeinsam Entscheidungen zu treffen, kollektive Macht zu entwickeln und um durchzudenken, wie wir vom Jetzt zur künftigen Welt gelangen. Ein Panel der Municipalism Learning Series diskutierte solche “assemblies” anhand von migrantischen Landarbeiter*innen, der Schwarzen Community in Nashville und Occupy Wall Street.

Radikaler Munizipalismus bedeutet für Yvonne Yen Liu, dass soziale Bewegungen dazu fähig sind, die hegemonialen Strukturen, die über uns herrschen, zu zerbrechen und sie durch alternative, dezentrale, kollaborative und horizontale Strukturen zu ersetzen. Das grundlegende Instrument dafür ist die Versammlung, auf Englisch “assembly”.

Yvonne Yen Liu ist bei der Los Angeles Peoples Movement Assembly engagiert und moderierte kürzlich ein Online-Panel der Municipalism Learning Series mit dem schlichten Titel “Assembly”. Sie beschrieb, wie Leute aus sozialen Bewegungen zusammenkommen, um sich selber zu organisieren und die Gesellschaft, die sie sich wünschen, schon jetzt zu leben versuchen. Es gehe nicht bloss um Widerstand, sondern darum, “die neue Welt in der Hülle der alten aufzubauen” und Schritt für Schritt in diese neue Welt hinein zu transitionieren. Versammlungen könnten auch Teil einer Dual-Power-Strategie1 sein. Yvonne Yen Liu ist überzeugt: “Es ist ein Modell, das sich ausbreitet!”

Assembly: Demokratie neu erfinden

Im Panel sprach auch der politische Philosoph Michael Hardt, Co-Autor (mit dem kürzlich verstorbenen Antonio Negri) des Buches “Assembly”2. Für ihn sind Versammlungen Strukturen oder Institutionen für demokratische Entscheidungsfindung und implizieren eine Kritik an der existierenden Demokratie. Eine der Aufgaben von Versammlungen sei, eine neue Demokratie zu erfinden.

Eine Schwierigkeit sei, Versammlungen so zu gestalten, dass Gleichheit hergestellt werde und bestehende Hierarchien kompensiert werden könnten, beispielsweise durch die Reihenfolge, wer zuerst reden dürfe.

Eine weitere Fähigkeit oder Aufgabe von Versammlungen sei, dass sie Differenzen zwischen einzelnen Bewegungen oder Gruppen überwinden helfen könnten. Bei Occupy Wall Street beispielsweise hätten antikapitalistische, antirassistische und feministische Bewegungen zusammengefunden.

Ein Gefühl des Vertrauens

Die nächste Panel-Sprecherin, Marisa Holmes, hat Occupy Wall Street damals (2011) als ein “Commons” erlebt, in dem “die neue Welt in der Hülle der alten” gebaut worden sei und Differenzen ausgehandelt worden seien. Es habe eine Frauen-Sektion, eine Queer-Sektion und eine separate feministische Versammlung gegeben, und trotzdem hätten alle zusammen eine gemeinsame multi-ethnische, Multi-Gender-Bewegung gebildet. Es sei möglich gewesen, über Differenzen hinweg zusammenzuarbeiten, weil ein Gefühl des Vertrauens bestanden habe – etwas, das wir in der jetzigen Gesellschaft nicht hätten und das bewusst erarbeitet werden müsse.

Raum zum Atmen für Migrant*innen

Edgar Franks von Familias Unidas Por La Justicia sprach über die Gewerkschaft der Landarbeiter*innen im Bundesstaat Washington. Versammlungen hätten von Anfang an zur kulturellen Praxis gehört, unter anderem weil viele Migrant*innen aus Mexiko dabei gewesen seien, die bereits eine Praxis der kollektiven Entscheidungsfindung mitgebracht hätten.

In den Versammlungen werde beispielsweise entschieden, wann gestreikt werde oder wann ein Gewerkschaftsvertrag angestrebt werde. Ausserdem sei die Versammlung ein Ort, an dem Analyse stattfinde und wo eigene Lösungen für Probleme gefunden werden könnten. “All diese demokratischen Praktiken werden dir vorenthalten, wenn du ein immigrierter Landarbeiter in den USA bist”, meinte Edgar Franks. Die herrschenden Gesetze seien bewusst rassistisch, und die Versammlung gebe ihnen einen Raum zum Atmen, eine Methode, alternative Macht aufzubauen.

Die Versammlungen hätten die Gewerkschaft wirklich vorwärts gebracht, sagte Edgar Franks. Diese bewege sich allerdings auf einem schmalen Grat zwischen kollektiver Entscheidungsfindung und notwendiger Gewerkschafts-Bürokratie.

Schwarze Wähler*innen und partizipative Demokratie

Denzel Caldwell stellte die Black Nashville Assembly vor. Es handelt sich um ein Projekt der partizipativen Demokratie für Menschen, die nicht wählen dürfen. Das heutige gesellschaftliche Umfeld sei eine Fortsetzung der rassistischen Plantagen-Wirtschaft und der Jim-Crow-Ära, holte Denzel Caldwell aus, was sich beispielsweise im militarisierten Gefängnis-System äussere. Entsprechend sehe sich die Black Nashville Assembly in der Tradition von Organisationen wie SNCC und Aktivisten wie Huey P. Newton. Die Versammlung sei vor allem ein Instrument, um sich zu organisieren, um die “Muskeln zu trainieren” und politische Macht aufzubauen. Aber auch ein Raum, um die Brücke, wie wie vom Hier zum Dort kommen, durchzudenken, und “wie wir uns zur Selbstbestimmung befähigen und eine Community jenseits der kapitalistischen politischen Realität vorstellen können”.

2020 begann die Black Nashville Assembly damit, in der elektoralen Arena aktiv zu werden und politische Forderungen für die Bürgermeister*innen- und Stadtratswahlen zu formulieren. “Wir schufen eine neue politische Umgebung”, stellte Denzel Caldwell fest. Zum ersten Mal war es nicht so, dass die Schwarzen Wählerinnen an Wahlveranstaltungen gingen, wo die Kandidierenden präparierte Fragen gestellt bekamen und rituell ihre Agenda propagieren, sondern diesmal rief die Black Nashville Assembly die Kandidierenden zu sich – und alle kamen. So öffnete sich ein Frage-und-Antwort-Raum, in dem schnell deutlich wurde, welche Kandidierenden Absichten hatten, die den Interessen der Schwarzen Arbeiter*innenklasse in Nashville zuwiderliefen. Dahinter steht laut Denzel Caldwell ein neues Verständnis von partizipativer Demokratie und davon, wie die Leute mit Repräsentant*innen im Gespräch sein könnten und sie verantwortlich halten könnten.

Spannungen aushalten, Fallen vermeiden, Widersprüche aufzeigen, kreativ intervenieren

In der Fragerunde wies Michael Hardt auf die Spannung zwischen verschiedenen demokratischen Formen hin – zwischen partizipatorischer Versammlung und elektoralem Engagement oder zwischen Arbeiter*innen-Versammlung und Gewerkschaft.

Edgar Franks gab zu, dass diese Spannung bestehe. Andererseits vereine die Organisierung der Landarbeiter*innen die Vorteile von gewerkschaftlichen Verhandungen und kollektiver Entscheidungsfindung.

Auch Denzel Caldwell bestätigte, dass es Spannungen gebe und dass die Gefahr bestehe, in neoliberale, elektorale Fallen zu treten. Es gehe aber darum, im elektoralen Raum zu intervenieren und Widersprüche aufzuzeigen: “Lasst uns kreativ darüber nachdenken, Macht durch kollektive Aktion auszuüben.” Dies sei harte Arbeit und die Versammlung helfe, alles durchzudenken: Wer prägt unsere Realität und unsere Rahmenbedingungen? Für wen arbeiten wir eigentlich? Ist alles durch Strukturen vorgegeben oder können wir durch unsere Versammlung unsere Umwelt mitgestalten? Es gehe auch darum, die Idee der Schwarzen Repräsentation grundsätzlich infrage zu stellen.

Videoaufzeichnung des Panels (und eine tolle künstlerische Infografik): https://municipalism.org/2023/11/10/assembly/

Fotoquelle: https://familiasunidasjusticia.com / https://www.blacknashvilleassembly.org

1 Dual Power, auf Deutsch “Doppelmacht” bezeichnet eine Situation, in der die Menschen von unten eine Gegenmacht zur existierenden Regierung aufbauen und mit ihr um Legitimation (und schliesslich tatsächliche Macht) konkurrieren.

2 “Assembly”, 2017 erschienen, ist ein eher abstrakt-theoretisches Buch über Kapitalismus und die Kraft der “Multitude”, soziale Veränderungen zu erreichen. Es enthält wenig Bezüge zur konkreten politischen Praxis von Versammlungen. Trotzdem wurde es breit rezipiert und kann als theoretischer Hintergrund für antiautoritäre, basisdemokratische Bewegungen hilfreich sein.

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