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Assembly: der Keim einer neuen Demokratie

Soziale Bewegungen nutzen das Instrument der Versammlung (assembly), um gemeinsam Entscheidungen zu treffen, kollektive Macht zu entwickeln und um durchzudenken, wie wir vom Jetzt zur künftigen Welt gelangen. Ein Panel der Municipalism Learning Series diskutierte solche “assemblies” anhand von migrantischen Landarbeiter*innen, der Schwarzen Community in Nashville und Occupy Wall Street.

Radikaler Munizipalismus bedeutet für Yvonne Yen Liu, dass soziale Bewegungen dazu fähig sind, die hegemonialen Strukturen, die über uns herrschen, zu zerbrechen und sie durch alternative, dezentrale, kollaborative und horizontale Strukturen zu ersetzen. Das grundlegende Instrument dafür ist die Versammlung, auf Englisch “assembly”.

Yvonne Yen Liu ist bei der Los Angeles Peoples Movement Assembly engagiert und moderierte kürzlich ein Online-Panel der Municipalism Learning Series mit dem schlichten Titel “Assembly”. Sie beschrieb, wie Leute aus sozialen Bewegungen zusammenkommen, um sich selber zu organisieren und die Gesellschaft, die sie sich wünschen, schon jetzt zu leben versuchen. Es gehe nicht bloss um Widerstand, sondern darum, “die neue Welt in der Hülle der alten aufzubauen” und Schritt für Schritt in diese neue Welt hinein zu transitionieren. Versammlungen könnten auch Teil einer Dual-Power-Strategie1 sein. Yvonne Yen Liu ist überzeugt: “Es ist ein Modell, das sich ausbreitet!”

Assembly: Demokratie neu erfinden

Im Panel sprach auch der politische Philosoph Michael Hardt, Co-Autor (mit dem kürzlich verstorbenen Antonio Negri) des Buches “Assembly”2. Für ihn sind Versammlungen Strukturen oder Institutionen für demokratische Entscheidungsfindung und implizieren eine Kritik an der existierenden Demokratie. Eine der Aufgaben von Versammlungen sei, eine neue Demokratie zu erfinden.

Eine Schwierigkeit sei, Versammlungen so zu gestalten, dass Gleichheit hergestellt werde und bestehende Hierarchien kompensiert werden könnten, beispielsweise durch die Reihenfolge, wer zuerst reden dürfe.

Eine weitere Fähigkeit oder Aufgabe von Versammlungen sei, dass sie Differenzen zwischen einzelnen Bewegungen oder Gruppen überwinden helfen könnten. Bei Occupy Wall Street beispielsweise hätten antikapitalistische, antirassistische und feministische Bewegungen zusammengefunden.

Ein Gefühl des Vertrauens

Die nächste Panel-Sprecherin, Marisa Holmes, hat Occupy Wall Street damals (2011) als ein “Commons” erlebt, in dem “die neue Welt in der Hülle der alten” gebaut worden sei und Differenzen ausgehandelt worden seien. Es habe eine Frauen-Sektion, eine Queer-Sektion und eine separate feministische Versammlung gegeben, und trotzdem hätten alle zusammen eine gemeinsame multi-ethnische, Multi-Gender-Bewegung gebildet. Es sei möglich gewesen, über Differenzen hinweg zusammenzuarbeiten, weil ein Gefühl des Vertrauens bestanden habe – etwas, das wir in der jetzigen Gesellschaft nicht hätten und das bewusst erarbeitet werden müsse.

Raum zum Atmen für Migrant*innen

Edgar Franks von Familias Unidas Por La Justicia sprach über die Gewerkschaft der Landarbeiter*innen im Bundesstaat Washington. Versammlungen hätten von Anfang an zur kulturellen Praxis gehört, unter anderem weil viele Migrant*innen aus Mexiko dabei gewesen seien, die bereits eine Praxis der kollektiven Entscheidungsfindung mitgebracht hätten.

In den Versammlungen werde beispielsweise entschieden, wann gestreikt werde oder wann ein Gewerkschaftsvertrag angestrebt werde. Ausserdem sei die Versammlung ein Ort, an dem Analyse stattfinde und wo eigene Lösungen für Probleme gefunden werden könnten. “All diese demokratischen Praktiken werden dir vorenthalten, wenn du ein immigrierter Landarbeiter in den USA bist”, meinte Edgar Franks. Die herrschenden Gesetze seien bewusst rassistisch, und die Versammlung gebe ihnen einen Raum zum Atmen, eine Methode, alternative Macht aufzubauen.

Die Versammlungen hätten die Gewerkschaft wirklich vorwärts gebracht, sagte Edgar Franks. Diese bewege sich allerdings auf einem schmalen Grat zwischen kollektiver Entscheidungsfindung und notwendiger Gewerkschafts-Bürokratie.

Schwarze Wähler*innen und partizipative Demokratie

Denzel Caldwell stellte die Black Nashville Assembly vor. Es handelt sich um ein Projekt der partizipativen Demokratie für Menschen, die nicht wählen dürfen. Das heutige gesellschaftliche Umfeld sei eine Fortsetzung der rassistischen Plantagen-Wirtschaft und der Jim-Crow-Ära, holte Denzel Caldwell aus, was sich beispielsweise im militarisierten Gefängnis-System äussere. Entsprechend sehe sich die Black Nashville Assembly in der Tradition von Organisationen wie SNCC und Aktivisten wie Huey P. Newton. Die Versammlung sei vor allem ein Instrument, um sich zu organisieren, um die “Muskeln zu trainieren” und politische Macht aufzubauen. Aber auch ein Raum, um die Brücke, wie wie vom Hier zum Dort kommen, durchzudenken, und “wie wir uns zur Selbstbestimmung befähigen und eine Community jenseits der kapitalistischen politischen Realität vorstellen können”.

2020 begann die Black Nashville Assembly damit, in der elektoralen Arena aktiv zu werden und politische Forderungen für die Bürgermeister*innen- und Stadtratswahlen zu formulieren. “Wir schufen eine neue politische Umgebung”, stellte Denzel Caldwell fest. Zum ersten Mal war es nicht so, dass die Schwarzen Wählerinnen an Wahlveranstaltungen gingen, wo die Kandidierenden präparierte Fragen gestellt bekamen und rituell ihre Agenda propagieren, sondern diesmal rief die Black Nashville Assembly die Kandidierenden zu sich – und alle kamen. So öffnete sich ein Frage-und-Antwort-Raum, in dem schnell deutlich wurde, welche Kandidierenden Absichten hatten, die den Interessen der Schwarzen Arbeiter*innenklasse in Nashville zuwiderliefen. Dahinter steht laut Denzel Caldwell ein neues Verständnis von partizipativer Demokratie und davon, wie die Leute mit Repräsentant*innen im Gespräch sein könnten und sie verantwortlich halten könnten.

Spannungen aushalten, Fallen vermeiden, Widersprüche aufzeigen, kreativ intervenieren

In der Fragerunde wies Michael Hardt auf die Spannung zwischen verschiedenen demokratischen Formen hin – zwischen partizipatorischer Versammlung und elektoralem Engagement oder zwischen Arbeiter*innen-Versammlung und Gewerkschaft.

Edgar Franks gab zu, dass diese Spannung bestehe. Andererseits vereine die Organisierung der Landarbeiter*innen die Vorteile von gewerkschaftlichen Verhandungen und kollektiver Entscheidungsfindung.

Auch Denzel Caldwell bestätigte, dass es Spannungen gebe und dass die Gefahr bestehe, in neoliberale, elektorale Fallen zu treten. Es gehe aber darum, im elektoralen Raum zu intervenieren und Widersprüche aufzuzeigen: “Lasst uns kreativ darüber nachdenken, Macht durch kollektive Aktion auszuüben.” Dies sei harte Arbeit und die Versammlung helfe, alles durchzudenken: Wer prägt unsere Realität und unsere Rahmenbedingungen? Für wen arbeiten wir eigentlich? Ist alles durch Strukturen vorgegeben oder können wir durch unsere Versammlung unsere Umwelt mitgestalten? Es gehe auch darum, die Idee der Schwarzen Repräsentation grundsätzlich infrage zu stellen.

Videoaufzeichnung des Panels (und eine tolle künstlerische Infografik): https://municipalism.org/2023/11/10/assembly/

Fotoquelle: https://familiasunidasjusticia.com / https://www.blacknashvilleassembly.org

1 Dual Power, auf Deutsch “Doppelmacht” bezeichnet eine Situation, in der die Menschen von unten eine Gegenmacht zur existierenden Regierung aufbauen und mit ihr um Legitimation (und schliesslich tatsächliche Macht) konkurrieren.

2 “Assembly”, 2017 erschienen, ist ein eher abstrakt-theoretisches Buch über Kapitalismus und die Kraft der “Multitude”, soziale Veränderungen zu erreichen. Es enthält wenig Bezüge zur konkreten politischen Praxis von Versammlungen. Trotzdem wurde es breit rezipiert und kann als theoretischer Hintergrund für antiautoritäre, basisdemokratische Bewegungen hilfreich sein.

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„Die Republik demokratisieren, die Demokratie radikalisieren“

Im Territorium, das “Frankreich” genannt wird, erleben kommunalistische Bewegungen zurzeit einen Aufschwung, angefangen von den Gilets Jaunes über Gemeinde-Initiativen bis zu autonomen, praxisbezogenen Organisationen. Ein ganz junges Beispiel ist das “Mouvement Municipal” (das übrigens auch in St. Imier vertreten war). Es hat soeben einen Text veröffentlicht, in dem es seine Vision einer direkten, lokalen und konföderalistischen Demokratie präsentiert. Durch lokale Versammlungen sollen demokratische Räume geöffnet werden, was uns zudem ein Mittel in die Hand gibt, um der Klimakrise kollektiv zu begegnen. Da solche strategischen Inputs auch für deutschsprachige Regionen relevant sind, haben wir den gesamten Text übersetzt.

Vorstellung des “Mouvement Municipal” – Organisation der radikalen Demokratie

Wer sind wir?

Wir sind eine assoziative und spontane Organisation. Unser kurzfristiges Ziel ist, den Gedanken und die Literatur des libertären Munizipalismus zu teilen, wie auch einen Ort des offenen Austausches über die demorkatischen Ideen dieser politischen Strömung zu schaffen. Langfristig hoffen wir, Situationen der direkten Demokratie im ganzen französischsprachigen Raum umzusetzen oder zu tragen – Räume, die uns momentan am vertrautesten sind. Wir haben nur ein einziges Motto:

Die Republik demokratisieren, die Demokratie radikalisieren”1

Was sind unsere Handlungsachsen?

Wir orientieren unsere Aktionen an zwei politischen Achsen:

1. Die Vermittlung von demokratischen und ökologischen Ideen, wie sie vom libertären Munizipalismus und der Sozialen Ökologie propagiert werden. Wir tun dies, indem wir Dokumentationen, Reportagen und leicht verständliche Videos realisieren, wie auch Gespräche und Korrespondenz.

2. Die praktische Umsetzung dieses Konzepts mittels Aktionsstrategien in den Quartieren und Gemeinden.

Dies tun wir durch Vermittlungsaktionen, um Schritt für Schritt Orte des demokratischen Austauschs zu schaffen.

Welche Demokratie?

In diesem Sinn wünschen wir uns eine Demokratie, die:

  • direkt ist, um uns von den Politiker*innen zu befreien,
  • lokal ist, damit sie zugänglich und im materiellen Alltag verankert ist,
  • konföderalistisch ist, um eine konsitente politische Struktur zwischen den Gemeinden zu schaffen.

Diese Demokratie könnte sich etablieren, indem Versammlungen geschaffen werden, entweder durch eine Autonomie der Bevölkerung2 (Kommunalismus) oder durch lokale Wahlen (Munizipalismus). Wie diese Versammlungen funktionieren, bestimmen die Anwesenden selber, je nach ihrem ortsspezifischen Kontext. Beispielsweise können sie sich für Mehrheitswahl oder für Konsens entscheiden.

Was für Repräsentant*innen?

Um die Entscheidungen der Versammlungen umzusetzen, müssen Repräsentant*innen3 gewählt werden. Die Versammlung muss, da die Verwaltung für die Einzelnen zu komplex wäre, nach Möglichkeiten suchen, ein Komitee von Repräsentant*innen einzusetzen, die im Interesse der Versammlung handeln, ihr Rechenschaft ablegen und bei Zuwiderhandeln zurückgerufen werden können.

Um das in die Praxis umzusetzen, suchen wir nach den zuverlässigsten Verfahren für diese Problematik. Wir wollen nicht, dass diese Repräsentant*innen zu einer Führungskaste werden. Sie müssen gehorchen und nicht befehlen, repräsentieren und nicht ersetzen, kurz: den anderen dienen, nicht sich selbst.4

Wie funktionieren wir intern?

Ihrerseits wird sich die Bewegung besser ausrichten, wenn sie nach denselben demokratischen Prinzipien funktioniert. Um das zu tun, teilt sich die Organisation momentan in zwei Stufen:

1. Anhänger*innen, die das Mouvement Municipal nach ihren eigenen Möglichkeiten unterstützen können, ohne mit dem Aktivismus oder der politischen Theorie sehr vertraut zu sein.

2. Aktivist*innen, die auf demokratische Weise als geeignet erachtet werden, das Mouvement Municipal zu repräsentieren und eine besondere Fähigkeit für diese Aufgabe vorzeigen können. Bei einem persönlichen Treffen wird die Motivation beurteilt, was schliesslich zu einer Wahl durch die Gesamtheit der Aktivist*innen führt.

Welche Ökologie?

Ökologie ist die grösste Herausforderung der vergangenen und kommenden Jahrzehnte. In ihrer heutigen Form ist sie verkürzt, limitiert und wird nur mässig umgesetzt, sowohl durch die neoliberale Politik, die aktuell an der Macht ist, als auch durch die politischen Parteien, die sie als Speespitze benutzen. Ökologie wird ausschliesslich aus einer autoritären Optik betrachtet: ökonomischer Interventionismus, Techno-Lösungen, Öko-Autoritarismus etc.

Demgegenüber propagieren wir eine soziale Ökologie, eine Ökologie der Freiheit: einer Freiheit, die kollektiv aus Versammlungen heraus erwächst. Nur wenn wir uns auf die täglichen materiellen und konkreten Bedürfnisse stützen, können wir zu einer zuträglichen Ökologie gelangen.

Deshalb müssen wir unsere Gewohnheiten hinterfragen, beispielsweise: Warum besitzen wir alle einen Drucker, der nach 300 Ausdrucken den Geist aufgibt?

Welche Wirtschaft?

Es scheint uns schwierig zu sein, direkte Demokratie, Ökologie und Kapitalismus miteinander zu vereinbaren. Während die einen nicht an Versammlungen teilnehmen können, weil sie bei der Arbeit zu Überstunden gezwungen sind, können die anderen genau diese Versammlungen nutzen, um sie zu befreien, indem sie die Fehler des industriellen Projekts anprangern.

Deshalb müssen wir dieser Wirtschaftsweise, die von der Akkumulation und der Ausbeutung der Ressourcen diktiert wird, ein Ende setzen. Es wird entscheidend sein, sie durch eine demokratische Form des Wirtschaftens zu ersetzen, die nach lokalen Gegebenheiten funktioniert (Arbeiter*innen, Bedürfnisse, Rohstoffe etc.); bei der die Produktion mit den realen Bedürfnissen der Einwohner*innen und Arbeiter*innen in ihrem Alltag zusammenfällt.

Um von hier aus noch einen Schritt weiter zu gehen …

Wie oben erwähnt, ist unser Ziel auch, Literatur des libertären Munizipalismus und Kommunalismus zu teilen. Deshalb empfehlen wir euch folgende Werke:

Findet uns!

Auf unserer Website, in unseren sozialen Medien (Instagram, Youtube), an den Versammlungen, die wir organisieren und an den lokalen Aktionen, die wir durchführen!


1 Dieser Leitspruch stammt von Murray Bookchin, siehe: https://roarmag.org/magazine/biehl-bookchins-revolutionary-program/

2 Im Original: “autonomie citoyenne”.

3 Auch die direkte Demokratie kommt nicht ohne ein gewisses Mass an Repräsentation aus. Der entscheidende Unterschied einer wirklichen direkten Demokratie zu sogenannten “Demokratien” wie der französischen Republik oder der schweizerische Eidgenossenschaft ist jedoch, dass die Repräsenant*innen nicht das freie Mandat haben, sondern das imperative Mandat, und jederzeit abgewählt werden können.

4 Hier bezieht sich das Mouvement Municipal auf die sieben Prinzipien des gehorchenden Regierens der Zapatistas: https://netzwerkkommunalismus.wordpress.com/2021/09/09/wie-die-zapatistas-gehorchend-regieren-lektionen-in-basisdemokratischer-selbstverwaltung/

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Der gefährliche Trugschluss von “Demokratie” und die Notwendigkeit, echte Demokratie wieder zu beleben

Sprache ist ein mächtiges Werkzeug. Das gilt für die Politik wie für jeden anderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens, wenn nicht sogar noch mehr. Und es gibt da einen spezifischen Begriff, der links und rechts von den herrschenden Eliten wie auch von Graswurzelbewegungen benutzt wird. Ich rede natürlich von der “Demokratie”.

Von Yavor Tarinski

Die Demokratien” ist nur der gebräuchliche Begriff für diesen Staatenblock. Intern ist der Demokrat ein Feind.
-Jacques Ranciere1

Es ist wirklich eindrücklich, welche Bandbreite an Regimes und Kontexten diesen Begriff benutzen. Fast überall auf diesem Planeten, egal wo du situiert bist, sagen sie dir mit höchster Wahrscheinlichkeit, dass du in irgendeiner Art von demokratischem System lebst. Alles scheint irgendwie “demokratisch” zu sein, und wie Cornelius Castoriadis andeutet, sogar wenn ein Korporal mit zehn Maschinengewehren und 20 Jeeps irgendwo auf der Welt versucht die Macht zu ergreifen, würde er das nicht tun, ohne zu deklarieren, dass er eine Art von demokratischem Regime errichten will.2

Zunächst gibt es die sogenannte repräsentative Demokratie, die heute als die Standardform von “Demokratie” wahrgenommen wird, in der die politische Partizipation der Menschen darauf beschränkt ist, alle vier Jahre ein Regierungsgremium zu wählen. Es gibt auch Systeme mit grösserer Bürger*innenbeteiligung, oft partizipative oder deliberative Demokratien genannt. In diesen dürfen die Leute ausserhalb der Wahlen auch über sporadische Referenden etc. abstimmen. Es gibt sogar Regimes, die den Namen “demokratische Monarchie” tragen, wo neben einer gewählten Regierung immer noch ein Monarch fungiert. Und schliesslich haben wir die direkte Demokratie, in der Gemeinschaften und sogar ganze Gesellschaften auf der Basis von radikaler Gleichheit und in Abwesenheit von hierarchischen Strukturen funktionieren.

“Die einfache Antwort ist, dass keines dieser Beispiele […] auch nur annähernd etwas mit Demokratie zu tun hat.”

Hier stellt sich eine sehr naheliegende Frage: Wie können all diese Modelle, einander so diametrisch entgegengesetzt, alle unter der Flagge der “Demokratie” marschieren? Die einfache Antwort ist, dass keines dieser Beispiele, ausser das letzte, auch nur annähernd etwas mit Demokratie zu tun hat. Stattdessen sind es die herrschenden Klassen, die einen Begriff zu ihrem Vorteil umgedeutet haben, der einst aus den Graswurzelbewegungen kam und für eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft stand. Als Resultat wird ein falsches Gefühl von Volksermächtigung vermittelt, da die ständige Erwähnung von “Demokratie” die Leute daran erinnern soll, dass sie “am Hebel” sind, unbeachtet der Tatsache, dass sie kaum eine Mitsprache bei der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten haben.

Die Idee von “Demokratien” im Gegensatz zu Demokratie suggeriert, dass, solange irgendeine Form von Wahlprozess abläuft, die Leute das Steuerrad im Griff haben: Sie müssen keine weitgehendere Ermächtigung anstreben als “geeignetere” Herrscher zu wählen. Das ist natürlich komplett falsch, da die Wahl von Repräsentant*innen naturgemäss eine vertikale Form der Regierung voraussetzt (und so das Beibehalten eines bürokratischen Staats), bei der die Mehrheit der Menschen von der direkten Partizipation an der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten ausgeschlossen ist.

Es ist allgemein bekannt, dass die Bürger im alten Athen, wo das Konzept ursprünglich herkam, etwas radikal anderes im Sinn hatten als das, was wir heute haben. Obwohl die athenische Gesellschaft in dieser Zeit vom Übel der Sklaverei und des Patriarchats befallen war, d. h. versklavte Menschen und Frauen vom politischen Leben ausgeschlossen waren, durchlief sie eine Revolution, die zur Schaffung einer Demokatie führte, zur Selbstverwaltung durch die Bürgerschaft. Für einen antiken Athener wie Aristoteles bestand ein klarer Unterschied zwischen einem demokratischen System und der Wahl von Repräsentanten – Ersteres basierte auf Volksversammlungen und Los, während Letzteres als Grundstein der Oligarchie angesehen wurde. Obwohl Aristoteles der Demokratie gegenüber kritisch eingestellt war, unterstrich er ihren Graswurzelcharakter: Eine Demokratie existiert, wenn die Vielen, die frei und nicht vermögend sind, die souveräne Kontrolle der Regierung innehaben; eine Oligarchie, wenn die Kontrolle in den Händern der Reichen und Bessergeborenen liegt, die Wenige sind.3

“Denker des 18. Jahrhunderts wie Jean-Jacques Rousseau waren sich des Unterschieds zwischen Demokratie und Repräsentation wohl bewusst.”

Dieses Verständnis von demokratischer Politik als populäre Selbstverwaltung durch die verschiedenen Zeitepochen hindurch Bestand. Denker des 18. Jahrhunderts wie Jean-Jacques Rousseau waren sich des Unterschieds zwischen Demokratie und Repräsentation wohl bewusst: Für ihn haben wir eine demokratische Gesellschaft, wenn eine Regierung in den Händern aller Mesnchen oder einer Mehrheit liegt, während Aristokratie oder Oligarchie ist, wenn die Regierung einer kleinen Anzahl von Bürgern (sprich Repräsentanten) vorbehalten ist.4

Andere prominente Figuren dieser Zeit zeigten eine ähnliche Haltung, so auch Thomas Paine, der Mann der Revolutionen. Auch er machte den Unterschied zwischen Repräsentation und Demokratie, im Verständnis, dass letztere in ihrer ursprünglichen Form für eine Gesellschaft, die sich selbst ohne die Hilfe sekundärer Mittel regiert, stand.5

Der Moment, in dem diese klare Unterscheidung zwischen Demokratie und Repräsentation verwischt wurde, kam wohl im 19. Jahrhundert, mit der Publikation von Democracy in America von Alexis de Tocqueville. In diesem Werk verortete der Autor elektorale Prozesse im Herzen demokratischer Politik: Lange bevor der festgesetzte Tag kommt, wird die Wahl zur grössten, man könnte sagen, zur einzigen Angelegenheit, die die Gemüter der Menschen beschäftigt.6 Das setzt den sprachlichen Rahmen für eine Begriffsverwirrung, die in den kommenden Jahren den herrschenden Klassen und Demagogen dienen sollte, während sie zugleich über das revolutionäre Projekt hinwegtäuscht.

Im 20. Jahrhundert sollte Lenin damit fortfahren, den inneren Widerspruch zwischen Elektoralismus und Demokratie zu verwischen. Er geht soweit, dass er uns einredet, dass wir uns Demokratie nicht, sogar proletarische Demokratie nicht, ohne repräsentative Institutionen vorstellen können.7 Dies zwingt ihn dazu, Staatsräson (statecraft) als unausweichlich zu akzeptieren und die Essenz der Revolution allein in der ökonomischen Sphäre zu suchen, da die politische, und mit ihr der Machtfluss von oben nach unten, keine Alternative hat.

Diese Art zu Denken setzt sich bis heute fort. Viele prominente Denker, wie der marxistische Ökonom Richard Wolf, führen diese Tendenz fort, unsere gegenwärtigen repräsentativen Oligarchien mit Demokratie gleichzusetzen. Für Wolf leben wir in einer politischen Demokratie, weil es Wahlen für die Regierung gibt (was angeblich die Menschen politisch ermächtigen soll), was ihn zu der Feststellung führt, dass wir Wahlen für Arbeitgeber*innen auch an den Arbeitsplatz bringen müssen, sodass wir die Menschen auch ökonomisch ermächtigen können:

Hier besteht eine Demokratie in der Art, wie du lebst – dein Zuhause, deine Nachbarschaft – weil du die Leute wählst, die Bürgermeister, Senator oder Gouverneur sind. Aber du wählst nicht deinen Arbeitgeber.8

Natürlich gibt es immer noch Stimmen, die den wesentlichen Unterschied zwischen elektoraler Staatsräson und demokratischer Selbstverwaltung machen. Solche Beispiele umfassen Leute wie die britischen Ökonomen Cockshott and Cottrell, die diesen schroffen Widerspruch unterstreichen:

Parlamentarische Regierung und Demokratie sind gegensätzliche Pole. Demokratie ist Herrschaft durch die Massen, durch die Armen und Enteigneten; Parlament ist Herrschaft durch professionelle Politiker, die zahlenmässig und bezüglich Klassenstatus, Teil der Oligarchie sind.9

Leider hat sich die Konfusion durchgesetzt, was dazu führt, dass solche Stimme marginalisiert werden. Das hat ein zweifaches Problem geschaffen. Einerseits nützt es den Interessen der herrschenden Eliten, indem es einen ideologischen Schleier bietet, der den hierarchischen Charakter des dominanten bürokratischen Systems hinter Narrativen und ikonischen Prozessen populärer Pseudo-Partizipation verbirgt. Auf diese Weise wird versucht, ein Gefühl einzupflanzen und zu erhalten, dass wir gewissermassen an den Aktionen unserer Regierung mitbeteiligt sind, da wir es waren, die sie gewählt haben. Es spielt keine Rolle, wie klein und unwichtig unser Beitrag wirklich ist – wir haben gewählt, deshalb haben wir partizipiert und sind ein wenig mitverantwortlich für die Handlungen der Gewählten, die an der Macht sind. Natürlich ist diese Logik völlig trügerisch, weil, wie Castoriadis anmerkt, die Menschen nicht einmal am Wahltag frei sind, weil der Kartenstapel schon angeordnet ist und die Pseudo-Optionen durch Parteien vorgefertigt sind – und darüber hinaus leer sind.10

“… was bedeuten würde, die existierenden Machtbeziehungen und Entscheidungsprozesse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene radikal zu ändern.”

Auf der anderen Seite verhüllt diese Konfusion die Alternative zu dem, was wir heute als systemische Form von gesellschaftlicher Organisation haben. Indem sie uns vormacht, wir hätten bereits ein System, das die Menschen politisch ermächtigt, macht sie uns blind für die existierenden Machtunterschiede. Somit wird das politische Feld aufgegeben und Lösungen werden nur im ökonomischen, kulturellen oder anderen Bereichen gesucht. Das führt in eine Sackgasse, weil es keine populäre Ermächtigung in einer getrennten Sphäre geben kann in einem Top-down-Schema, das die Gesellschaft in Schichten von kleinen Eliten mit Macht und entmachtete Mehrheiten trennt. Obwohl Kämpfe in jeder dieser einzelnen Sphären wichtig sind und zum Wohlergehen von uns allen im “Hier-und-jetzt” beitragen und oft unseren räumlichen und zeitlichen Bewegungsrahmen ausweiten, kann sich kein revolutionärer Wandel vollziehen, solange wir nicht die Skelettstruktur umstürzen, auf der moderne Gesellschaften errichtet sind – was bedeuten würde, die existierenden Machtbeziehungen und Entscheidungsprozesse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene radikal zu ändern.

Das ist der Punkt, an dem Demokratie ins Spiel kommt. Seit ihren Anfängen bis heute postuliert sie, dass wenn es um die Regeln unseres Zusammenlebens geht, jede*r Einzelne von uns im gleichen Mass an ihrer Gestaltung mitwirken kann und soll via Graswurzel-Versammlungen. Und wenn Entscheidungen auf einer grösseren Skala koordiniert werden sollen, die über die selbstverwaltete Gemeinde hinaus geht, dass dann rückrufbare Delegierte per Los in konföderierte, koordinierende Räte und Kantone gewählt werden. Auf diese Weise wird abgesichert, dass die Macht bei den Graswurzeln bleibt, denn, wie Jacques Ranciere erklärt:

Wir sollten zwischen Delegation und Repräsentation unterscheiden. In einer Demokratie werden logischerweise einige Leute gewisse Aktivitäten im Namen anderer Leute ausführen. Aber die Delegierte spielt ihre Rolle nur einmal, was nicht stimmt für Repräsentanten. Lose ziehen war einst der normale demokratische Weg um Delegierte zu bestimmen, basierend auf dem Prinzip, dass alle gleichermassen dazu fähig sind.11

So bietet sich ein radikaler Wandel an, der eine radikale Umstrukturierung aller Bereiche mit sich führt. Wenn Bürokratie und Elitenherrschaft erst einmal weg sind, liegt es an allen Mitgliedern der Gesellschaft, die Regeln und Rahmenbedingungen, die unser kollektives Leben formen, direkt zu verändern. Es wäre lächerlich, in einem solchen Setting beispielsweise wirtschaftliche Ungleichheit zu befürchten, denn, wie Murray Bookchin suggeriert, werden ökonomische Prozesse von der politischen Sphäre absorbiert:

Die Wirtschaft hört auf, bloss eine Wirtschaft im engeren Sinn zu sein – ob als “Geschäfts-”, “Markt-”, kapitalistische oder “Arbeiter*innen-verwaltete” Unternehmen. Sie wird zu einer wirklich politischen Ökonomie: die Ökonomie der Polis oder der Kommune. In diesem Sinn wird die Wirtschaft wahrhaft kommunisiert und politisiert. Die Munizipalität, oder präziser: die Körperschaft der Bürger*innen in einer Versammlung von Angesicht zu Angesicht, absorbiert die Wirtschaft als einen Aspekt der öffentlichen Angelegenheiten und entbindet sie von der Identität eines selbstdienlichen, privatisierten Unternehmens.12

“Solange wir unfähig sind, Demokratie jenseits von Wahlen zu denken, solange werden wir im Kreis herumrennen.”

Eine solche radikal egalitäre und partizipatorische Perspektive ist nur umsetzbar, wenn wir unser Imaginäres von allen Lasten der Herrschaft befreien – inklusive elektorale Repräsentation. Solange wir unfähig sind, Demokratie jenseits von Wahlen zu denken, solange werden wir im Kreis herumrennen – und uns wundern, warum diejenigen, die wir gewählt haben, zu einer klar unterscheidbaren Klasse geworden sind, die ihre eigenen Interessen hat, die denjenigen der entmachteten überwiegenden Mehrheit entgegenlaufen. Dieser letzte Punkt wird für Menschen überall auf der Welt zunehmend offensichtlich, weshalb die Wahlenthaltung fast überall rekordhoch ist.

Diese wachsende Weigerung, an elektoralen Spektakeln teilzunehmen, kann entweder zu noch mehr politischem Zynismus führen, oder sie kann den ideologischen Schleier der “Demokratien” heben und Repräsentation blosstellen als das, was sie wirklich ist – ein Grundpfeiler von Oligarchie und Elitenherrschaft.

Der letztere Fall erlaubt, dass sich egalitäre und kommunale Perspektiven herausbilden – die Vision, dass politische Repräsentation vollständig abgeschafft und durch die direkte und unvermittelte Partizipation aller in der Gestaltung des Lebens durch Graswurzel-Institutionen (wie populäre Versammlungen und Räte mit abrufbaren Delegierten) ersetzt wird. Was wir heute schon tun können, ist hartnäckig darauf zu insistieren, dass es nicht unzählige Arten von “Demokratien” gibt: Wenn es eine Form gibt, die würdig ist, den Namen Demokratie zu tragen, dann ist es diejenige, die die Herrschaft von Menschen über andere Menschen und über die natürliche Welt obsolet macht.

Übersetzung: NfK

Original: https://medium.com/@yavortarinski/the-dangerous-fallacy-of-democracies-and-the-need-to-reinvigorate-real-democracy-5e5dfaddb7d5

Yavor Tarinski ist Mitglied des Redaktionsteams des Politmagazins aftoleksi.gr, Bibliograph bei agorainternational.org und Mitglied des Administrativrats von TRISE. Er ist einer der Mitgründer des sozialen Zentrums Adelante (Sofia) und des ersten bulgarischen Sozialforums und war in verschiedenen politischen Medienformaten und sozialen Bewegungen aktiv. Einige seiner politischen Hauptinteressen sind direkte Demokratie, soziale und individuelle Autonomie, Commons, solidarische Wirtschaft, political ecology etc.

Yavor Tarinski betreibt einen persönlichen Blog: https://towardsautonomyblog.wordpress.com und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Reclaiming Cities. Revolutionary Dimensions of Political Participation” (2023)


1 Giorgio Agamben (ed.): Democracy in What State? (New York: Columbia University Press, 2011), p77.

2 http://www.athene.antenna.nl/ARCHIEF/NR01-Athene/02-Probl.-e.html

3 Aristotle: The Politics (Harmondsworth: Penguin, 1986), p1290.

4 Jean-Jacques Rousseau: The Social Contract (Jonathan Bennett, 2017), p33.

5 https://www.ushistory.org/Paine/rights/c2-03.htm

6 https://www.crf-usa.org/election-central/de-tocqueville-america.html

7 Lenin: Collected Works, vol. 25 (Moscow: Foreign Languages Publishing House, 1964), p424.

8 https://ctxt.es/es/20160427/Politica/5729/richard-wolff-democracy-cooperatives-mondragon-self-directed-enterprise.htm

9 Cockshott & Cottrell: Towards a New Socialism (Nottingham: Spokesman, 1993), p159.

10 Cornelius Castoriadis: A Society Adrift (Not Bored, 2010), p220.

11 https://www.versobooks.com/en-gb/blogs/news/3142-representation-against-democracy-jacques-ranciere-on-the-french-presidential-elections?fbclid=IwAR1jrGejMFEthMfuV5ZBFM7S13V0AAooh1ToK1AXGg10YVss7nRI5lhg7Bc

12 https://theanarchistlibrary.org/library/murray-bookchin-community-ownership-of-the-economy

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Gemeinden bauen in Frankreich eine Demokratie “von unten” auf

2020 haben in Frankreich 700 partizipative Listen mit über 12’000 Kandidat*innen an den Gemeindewahlen teilgenommen und zahlreiche Siege errungen. Seither wird in ganz Frankreich mit einer neuen Demokratie “von unten” (une nouvelle démocratie “par le bas”) experimentiert.

Partizipative Gemeinden haben sich 2020 zur Kooperative “Fréquence Commune” zusammengeschlossen und seit 2022 vereint das Netzwerk “Action Communes” über 70 Gemeinden und partizipative Kollektive in Frankreich. In einem soeben erschienenen Artikel in der Zeitung “Le Monde” stellen sie ihre Idee einer partizipativen Demokratie vor.

Seit einigen Jahren sei ein Demokratiedefizit zu beobachten, schreiben die Autor*innen. Die Fünfte Republik werde immer autoritärer und es sei eine Illusion, dass die staatlichen Institutionen demokratisch seien. Überraschenderweise formiere sich der grösste Widerstand gegen diesen Trend nicht in Paris – entgegen den Bildern von den Demonstrationen, die zurzeit die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen – sondern aus den kleineren Städten und Dörfern. In Gemeinden wie Poitiers, Vaour, La Montagne oder La Crèche hätten Einwohner*innen als politische Laien ihre Verantwortung übernommen und würden zu einer lebendigen Demokratie beitragen. Sobald sie “das Rathaus gewonnen” hätten, würden diese partizipativen Gemeinden nach neuen Methoden suchen, wie Gewählte und Einwohner*innen besser zusammenarbeiten können.

Kreativität ist gefragt, denn die staatlichen Institutionen schränken die politischen Rechte der Gemeinden stark ein und versuchen ihre Eigenständigkeit unter Kontrolle zu halten. Im Artikel werden einige demokratische Instrumente genannt, mit denen die Kommunen zurzeit experimentieren:

  • Auslosung (z. B. von Bürger*innenpanels)
  • Haustürgespräche
  • partizipatives Budget (bzw. “co-construction” des Budgets)

Auch in den Bereichen Sicherheit, Bildung, Klimakrise und lokale Wirtschaft streben sie eine andere Form der “citoyenneté”1 an, also eine neue Rollenverteilung für die Einwohner*innen, für die Gewählten, für die*den Bürgermeister*in. Sie wollen “eine Demokratie, welche der Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit und der Ökologie dient.”

Tag für Tag würden die Gemeinden neue Methoden ausarbeiten, um kollektive Entscheidungen und Einwohner*innen-Initiativen zu fördern und Diskussionsräume zu öffnen: “Denn die Deliberation ist die Grundlage des demokratischen Funktionierens”, heisst es in dem Artikel. Durch diese Tätigkeit gewinnen die Einwohner*innen an Kompetenz, tauschen ihre Argumente aus, prüfen Kontroversen und evaluieren ihre Meinungen, um zu Entscheidungen zu gelangen, die im allgemeinen Interesse sind.

Macht anders verteilen

Folgenden Punkt betont der Artikel besonders: Es geht darum, die Macht zwischen Gewählten, Einwohner*innen und öffentlichen Akteur*innen anders zu verteilen. Das bedeutet, dass die neuen demokratischen Instrumente einen wirklichen Einfluss auf die Politik haben müssen. Die Autor*innen kritisieren die oft marktschreierisch angepriesene Praxis einer angeblichen “Partizipation” und “demokratischen Innovation”, die aber letzlich keine Entscheidungsmacht mit sich bringt. Im Gegensatz dazu würden die erwähnten Gemeinden das Risiko eingehen, “sich auf die populäre Souveränität zu verlassen” – das heisst, dass sie der Bevölkerung zutrauen, wirkungsmächtige Entscheidungen zu treffen.

Konföderation der Kommunen

Auf nationaler Ebene existiere diese Deliberation nicht, kritisiert der Artikel. Weder das Parlament, noch die Gewerkschaften, noch die Demonstrationen könnten eine Lösung bieten, die auf kollektiven Entscheidungen beruhe. Es liege deshalb an den partizipativen Kommunen, eine demokratische Alternative zu den autoritären Vorschlägen der Regierung zu finden.

“Menschen wie du und ich sind die Einzigen, die unsere Institutionen von Grund auf erneuern können”, schreiben die Autor*innen. Somit positionieren sie die Kommunen als Gegengewicht zum Nationalstaat: Wenn sie sich zu einer Bewegung zusammenschliessen („en fédérant“ im Originaltext, also „föderieren“), dann können sie die Regeln des politischen Spiels über den Haufen werfen und neu definieren. Falls es in der Zwischenzeit nicht gelinge, die Verfassung zu ändern, kündigt der Artikel an, so würden sich zu den Wahlen 2026 Tausende von partizipativen Listen in den Gemeinden organisieren.

Vollständiger Artikel (auf Französisch)

Foto: Fréquence Commune

1 Citoyen bedeutet “Bürger*in”, gemeint ist in diesem Kontext aber nicht Staatsbürger*in, sondern Gemeindemitglied. Analog wird das Wort “citoyenneté” (oder englisch “citizenship”) oft mit Staatsbürgerschaft übersetzt, hier sind aber die Mitglieder der kommunalen Gemeinschaft gemeint.