Kategorien
Basisdemokratie Demokratie Kommunalismus Philosophie

Der gefährliche Trugschluss von “Demokratie” und die Notwendigkeit, echte Demokratie wieder zu beleben

Sprache ist ein mächtiges Werkzeug. Das gilt für die Politik wie für jeden anderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens, wenn nicht sogar noch mehr. Und es gibt da einen spezifischen Begriff, der links und rechts von den herrschenden Eliten wie auch von Graswurzelbewegungen benutzt wird. Ich rede natürlich von der “Demokratie”.

Von Yavor Tarinski

Die Demokratien” ist nur der gebräuchliche Begriff für diesen Staatenblock. Intern ist der Demokrat ein Feind.
-Jacques Ranciere1

Es ist wirklich eindrücklich, welche Bandbreite an Regimes und Kontexten diesen Begriff benutzen. Fast überall auf diesem Planeten, egal wo du situiert bist, sagen sie dir mit höchster Wahrscheinlichkeit, dass du in irgendeiner Art von demokratischem System lebst. Alles scheint irgendwie “demokratisch” zu sein, und wie Cornelius Castoriadis andeutet, sogar wenn ein Korporal mit zehn Maschinengewehren und 20 Jeeps irgendwo auf der Welt versucht die Macht zu ergreifen, würde er das nicht tun, ohne zu deklarieren, dass er eine Art von demokratischem Regime errichten will.2

Zunächst gibt es die sogenannte repräsentative Demokratie, die heute als die Standardform von “Demokratie” wahrgenommen wird, in der die politische Partizipation der Menschen darauf beschränkt ist, alle vier Jahre ein Regierungsgremium zu wählen. Es gibt auch Systeme mit grösserer Bürger*innenbeteiligung, oft partizipative oder deliberative Demokratien genannt. In diesen dürfen die Leute ausserhalb der Wahlen auch über sporadische Referenden etc. abstimmen. Es gibt sogar Regimes, die den Namen “demokratische Monarchie” tragen, wo neben einer gewählten Regierung immer noch ein Monarch fungiert. Und schliesslich haben wir die direkte Demokratie, in der Gemeinschaften und sogar ganze Gesellschaften auf der Basis von radikaler Gleichheit und in Abwesenheit von hierarchischen Strukturen funktionieren.

“Die einfache Antwort ist, dass keines dieser Beispiele […] auch nur annähernd etwas mit Demokratie zu tun hat.”

Hier stellt sich eine sehr naheliegende Frage: Wie können all diese Modelle, einander so diametrisch entgegengesetzt, alle unter der Flagge der “Demokratie” marschieren? Die einfache Antwort ist, dass keines dieser Beispiele, ausser das letzte, auch nur annähernd etwas mit Demokratie zu tun hat. Stattdessen sind es die herrschenden Klassen, die einen Begriff zu ihrem Vorteil umgedeutet haben, der einst aus den Graswurzelbewegungen kam und für eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft stand. Als Resultat wird ein falsches Gefühl von Volksermächtigung vermittelt, da die ständige Erwähnung von “Demokratie” die Leute daran erinnern soll, dass sie “am Hebel” sind, unbeachtet der Tatsache, dass sie kaum eine Mitsprache bei der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten haben.

Die Idee von “Demokratien” im Gegensatz zu Demokratie suggeriert, dass, solange irgendeine Form von Wahlprozess abläuft, die Leute das Steuerrad im Griff haben: Sie müssen keine weitgehendere Ermächtigung anstreben als “geeignetere” Herrscher zu wählen. Das ist natürlich komplett falsch, da die Wahl von Repräsentant*innen naturgemäss eine vertikale Form der Regierung voraussetzt (und so das Beibehalten eines bürokratischen Staats), bei der die Mehrheit der Menschen von der direkten Partizipation an der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten ausgeschlossen ist.

Es ist allgemein bekannt, dass die Bürger im alten Athen, wo das Konzept ursprünglich herkam, etwas radikal anderes im Sinn hatten als das, was wir heute haben. Obwohl die athenische Gesellschaft in dieser Zeit vom Übel der Sklaverei und des Patriarchats befallen war, d. h. versklavte Menschen und Frauen vom politischen Leben ausgeschlossen waren, durchlief sie eine Revolution, die zur Schaffung einer Demokatie führte, zur Selbstverwaltung durch die Bürgerschaft. Für einen antiken Athener wie Aristoteles bestand ein klarer Unterschied zwischen einem demokratischen System und der Wahl von Repräsentanten – Ersteres basierte auf Volksversammlungen und Los, während Letzteres als Grundstein der Oligarchie angesehen wurde. Obwohl Aristoteles der Demokratie gegenüber kritisch eingestellt war, unterstrich er ihren Graswurzelcharakter: Eine Demokratie existiert, wenn die Vielen, die frei und nicht vermögend sind, die souveräne Kontrolle der Regierung innehaben; eine Oligarchie, wenn die Kontrolle in den Händern der Reichen und Bessergeborenen liegt, die Wenige sind.3

“Denker des 18. Jahrhunderts wie Jean-Jacques Rousseau waren sich des Unterschieds zwischen Demokratie und Repräsentation wohl bewusst.”

Dieses Verständnis von demokratischer Politik als populäre Selbstverwaltung durch die verschiedenen Zeitepochen hindurch Bestand. Denker des 18. Jahrhunderts wie Jean-Jacques Rousseau waren sich des Unterschieds zwischen Demokratie und Repräsentation wohl bewusst: Für ihn haben wir eine demokratische Gesellschaft, wenn eine Regierung in den Händern aller Mesnchen oder einer Mehrheit liegt, während Aristokratie oder Oligarchie ist, wenn die Regierung einer kleinen Anzahl von Bürgern (sprich Repräsentanten) vorbehalten ist.4

Andere prominente Figuren dieser Zeit zeigten eine ähnliche Haltung, so auch Thomas Paine, der Mann der Revolutionen. Auch er machte den Unterschied zwischen Repräsentation und Demokratie, im Verständnis, dass letztere in ihrer ursprünglichen Form für eine Gesellschaft, die sich selbst ohne die Hilfe sekundärer Mittel regiert, stand.5

Der Moment, in dem diese klare Unterscheidung zwischen Demokratie und Repräsentation verwischt wurde, kam wohl im 19. Jahrhundert, mit der Publikation von Democracy in America von Alexis de Tocqueville. In diesem Werk verortete der Autor elektorale Prozesse im Herzen demokratischer Politik: Lange bevor der festgesetzte Tag kommt, wird die Wahl zur grössten, man könnte sagen, zur einzigen Angelegenheit, die die Gemüter der Menschen beschäftigt.6 Das setzt den sprachlichen Rahmen für eine Begriffsverwirrung, die in den kommenden Jahren den herrschenden Klassen und Demagogen dienen sollte, während sie zugleich über das revolutionäre Projekt hinwegtäuscht.

Im 20. Jahrhundert sollte Lenin damit fortfahren, den inneren Widerspruch zwischen Elektoralismus und Demokratie zu verwischen. Er geht soweit, dass er uns einredet, dass wir uns Demokratie nicht, sogar proletarische Demokratie nicht, ohne repräsentative Institutionen vorstellen können.7 Dies zwingt ihn dazu, Staatsräson (statecraft) als unausweichlich zu akzeptieren und die Essenz der Revolution allein in der ökonomischen Sphäre zu suchen, da die politische, und mit ihr der Machtfluss von oben nach unten, keine Alternative hat.

Diese Art zu Denken setzt sich bis heute fort. Viele prominente Denker, wie der marxistische Ökonom Richard Wolf, führen diese Tendenz fort, unsere gegenwärtigen repräsentativen Oligarchien mit Demokratie gleichzusetzen. Für Wolf leben wir in einer politischen Demokratie, weil es Wahlen für die Regierung gibt (was angeblich die Menschen politisch ermächtigen soll), was ihn zu der Feststellung führt, dass wir Wahlen für Arbeitgeber*innen auch an den Arbeitsplatz bringen müssen, sodass wir die Menschen auch ökonomisch ermächtigen können:

Hier besteht eine Demokratie in der Art, wie du lebst – dein Zuhause, deine Nachbarschaft – weil du die Leute wählst, die Bürgermeister, Senator oder Gouverneur sind. Aber du wählst nicht deinen Arbeitgeber.8

Natürlich gibt es immer noch Stimmen, die den wesentlichen Unterschied zwischen elektoraler Staatsräson und demokratischer Selbstverwaltung machen. Solche Beispiele umfassen Leute wie die britischen Ökonomen Cockshott and Cottrell, die diesen schroffen Widerspruch unterstreichen:

Parlamentarische Regierung und Demokratie sind gegensätzliche Pole. Demokratie ist Herrschaft durch die Massen, durch die Armen und Enteigneten; Parlament ist Herrschaft durch professionelle Politiker, die zahlenmässig und bezüglich Klassenstatus, Teil der Oligarchie sind.9

Leider hat sich die Konfusion durchgesetzt, was dazu führt, dass solche Stimme marginalisiert werden. Das hat ein zweifaches Problem geschaffen. Einerseits nützt es den Interessen der herrschenden Eliten, indem es einen ideologischen Schleier bietet, der den hierarchischen Charakter des dominanten bürokratischen Systems hinter Narrativen und ikonischen Prozessen populärer Pseudo-Partizipation verbirgt. Auf diese Weise wird versucht, ein Gefühl einzupflanzen und zu erhalten, dass wir gewissermassen an den Aktionen unserer Regierung mitbeteiligt sind, da wir es waren, die sie gewählt haben. Es spielt keine Rolle, wie klein und unwichtig unser Beitrag wirklich ist – wir haben gewählt, deshalb haben wir partizipiert und sind ein wenig mitverantwortlich für die Handlungen der Gewählten, die an der Macht sind. Natürlich ist diese Logik völlig trügerisch, weil, wie Castoriadis anmerkt, die Menschen nicht einmal am Wahltag frei sind, weil der Kartenstapel schon angeordnet ist und die Pseudo-Optionen durch Parteien vorgefertigt sind – und darüber hinaus leer sind.10

“… was bedeuten würde, die existierenden Machtbeziehungen und Entscheidungsprozesse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene radikal zu ändern.”

Auf der anderen Seite verhüllt diese Konfusion die Alternative zu dem, was wir heute als systemische Form von gesellschaftlicher Organisation haben. Indem sie uns vormacht, wir hätten bereits ein System, das die Menschen politisch ermächtigt, macht sie uns blind für die existierenden Machtunterschiede. Somit wird das politische Feld aufgegeben und Lösungen werden nur im ökonomischen, kulturellen oder anderen Bereichen gesucht. Das führt in eine Sackgasse, weil es keine populäre Ermächtigung in einer getrennten Sphäre geben kann in einem Top-down-Schema, das die Gesellschaft in Schichten von kleinen Eliten mit Macht und entmachtete Mehrheiten trennt. Obwohl Kämpfe in jeder dieser einzelnen Sphären wichtig sind und zum Wohlergehen von uns allen im “Hier-und-jetzt” beitragen und oft unseren räumlichen und zeitlichen Bewegungsrahmen ausweiten, kann sich kein revolutionärer Wandel vollziehen, solange wir nicht die Skelettstruktur umstürzen, auf der moderne Gesellschaften errichtet sind – was bedeuten würde, die existierenden Machtbeziehungen und Entscheidungsprozesse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene radikal zu ändern.

Das ist der Punkt, an dem Demokratie ins Spiel kommt. Seit ihren Anfängen bis heute postuliert sie, dass wenn es um die Regeln unseres Zusammenlebens geht, jede*r Einzelne von uns im gleichen Mass an ihrer Gestaltung mitwirken kann und soll via Graswurzel-Versammlungen. Und wenn Entscheidungen auf einer grösseren Skala koordiniert werden sollen, die über die selbstverwaltete Gemeinde hinaus geht, dass dann rückrufbare Delegierte per Los in konföderierte, koordinierende Räte und Kantone gewählt werden. Auf diese Weise wird abgesichert, dass die Macht bei den Graswurzeln bleibt, denn, wie Jacques Ranciere erklärt:

Wir sollten zwischen Delegation und Repräsentation unterscheiden. In einer Demokratie werden logischerweise einige Leute gewisse Aktivitäten im Namen anderer Leute ausführen. Aber die Delegierte spielt ihre Rolle nur einmal, was nicht stimmt für Repräsentanten. Lose ziehen war einst der normale demokratische Weg um Delegierte zu bestimmen, basierend auf dem Prinzip, dass alle gleichermassen dazu fähig sind.11

So bietet sich ein radikaler Wandel an, der eine radikale Umstrukturierung aller Bereiche mit sich führt. Wenn Bürokratie und Elitenherrschaft erst einmal weg sind, liegt es an allen Mitgliedern der Gesellschaft, die Regeln und Rahmenbedingungen, die unser kollektives Leben formen, direkt zu verändern. Es wäre lächerlich, in einem solchen Setting beispielsweise wirtschaftliche Ungleichheit zu befürchten, denn, wie Murray Bookchin suggeriert, werden ökonomische Prozesse von der politischen Sphäre absorbiert:

Die Wirtschaft hört auf, bloss eine Wirtschaft im engeren Sinn zu sein – ob als “Geschäfts-”, “Markt-”, kapitalistische oder “Arbeiter*innen-verwaltete” Unternehmen. Sie wird zu einer wirklich politischen Ökonomie: die Ökonomie der Polis oder der Kommune. In diesem Sinn wird die Wirtschaft wahrhaft kommunisiert und politisiert. Die Munizipalität, oder präziser: die Körperschaft der Bürger*innen in einer Versammlung von Angesicht zu Angesicht, absorbiert die Wirtschaft als einen Aspekt der öffentlichen Angelegenheiten und entbindet sie von der Identität eines selbstdienlichen, privatisierten Unternehmens.12

“Solange wir unfähig sind, Demokratie jenseits von Wahlen zu denken, solange werden wir im Kreis herumrennen.”

Eine solche radikal egalitäre und partizipatorische Perspektive ist nur umsetzbar, wenn wir unser Imaginäres von allen Lasten der Herrschaft befreien – inklusive elektorale Repräsentation. Solange wir unfähig sind, Demokratie jenseits von Wahlen zu denken, solange werden wir im Kreis herumrennen – und uns wundern, warum diejenigen, die wir gewählt haben, zu einer klar unterscheidbaren Klasse geworden sind, die ihre eigenen Interessen hat, die denjenigen der entmachteten überwiegenden Mehrheit entgegenlaufen. Dieser letzte Punkt wird für Menschen überall auf der Welt zunehmend offensichtlich, weshalb die Wahlenthaltung fast überall rekordhoch ist.

Diese wachsende Weigerung, an elektoralen Spektakeln teilzunehmen, kann entweder zu noch mehr politischem Zynismus führen, oder sie kann den ideologischen Schleier der “Demokratien” heben und Repräsentation blosstellen als das, was sie wirklich ist – ein Grundpfeiler von Oligarchie und Elitenherrschaft.

Der letztere Fall erlaubt, dass sich egalitäre und kommunale Perspektiven herausbilden – die Vision, dass politische Repräsentation vollständig abgeschafft und durch die direkte und unvermittelte Partizipation aller in der Gestaltung des Lebens durch Graswurzel-Institutionen (wie populäre Versammlungen und Räte mit abrufbaren Delegierten) ersetzt wird. Was wir heute schon tun können, ist hartnäckig darauf zu insistieren, dass es nicht unzählige Arten von “Demokratien” gibt: Wenn es eine Form gibt, die würdig ist, den Namen Demokratie zu tragen, dann ist es diejenige, die die Herrschaft von Menschen über andere Menschen und über die natürliche Welt obsolet macht.

Übersetzung: NfK

Original: https://medium.com/@yavortarinski/the-dangerous-fallacy-of-democracies-and-the-need-to-reinvigorate-real-democracy-5e5dfaddb7d5

Yavor Tarinski ist Mitglied des Redaktionsteams des Politmagazins aftoleksi.gr, Bibliograph bei agorainternational.org und Mitglied des Administrativrats von TRISE. Er ist einer der Mitgründer des sozialen Zentrums Adelante (Sofia) und des ersten bulgarischen Sozialforums und war in verschiedenen politischen Medienformaten und sozialen Bewegungen aktiv. Einige seiner politischen Hauptinteressen sind direkte Demokratie, soziale und individuelle Autonomie, Commons, solidarische Wirtschaft, political ecology etc.

Yavor Tarinski betreibt einen persönlichen Blog: https://towardsautonomyblog.wordpress.com und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Reclaiming Cities. Revolutionary Dimensions of Political Participation” (2023)


1 Giorgio Agamben (ed.): Democracy in What State? (New York: Columbia University Press, 2011), p77.

2 http://www.athene.antenna.nl/ARCHIEF/NR01-Athene/02-Probl.-e.html

3 Aristotle: The Politics (Harmondsworth: Penguin, 1986), p1290.

4 Jean-Jacques Rousseau: The Social Contract (Jonathan Bennett, 2017), p33.

5 https://www.ushistory.org/Paine/rights/c2-03.htm

6 https://www.crf-usa.org/election-central/de-tocqueville-america.html

7 Lenin: Collected Works, vol. 25 (Moscow: Foreign Languages Publishing House, 1964), p424.

8 https://ctxt.es/es/20160427/Politica/5729/richard-wolff-democracy-cooperatives-mondragon-self-directed-enterprise.htm

9 Cockshott & Cottrell: Towards a New Socialism (Nottingham: Spokesman, 1993), p159.

10 Cornelius Castoriadis: A Society Adrift (Not Bored, 2010), p220.

11 https://www.versobooks.com/en-gb/blogs/news/3142-representation-against-democracy-jacques-ranciere-on-the-french-presidential-elections?fbclid=IwAR1jrGejMFEthMfuV5ZBFM7S13V0AAooh1ToK1AXGg10YVss7nRI5lhg7Bc

12 https://theanarchistlibrary.org/library/murray-bookchin-community-ownership-of-the-economy

Kategorien
Basisdemokratie Kommunalismus Munizipalismus

Politik vs. Staatswesen

Murray Bookchin betont immer wieder, dass eine grosse Verwirrung um den Begriff “Politik” herrscht. Was die meisten Leute heute unter Politik verstehen, sollte eigentlich “Staatswesen” oder “Staatsräson” (engl. statecraft) genannt werden. Das Staatswesen umfasst alle Operationen, die den Staat involvieren: “Das Ausüben seines Gewaltmonopols; seine Kontrolle des ganzen regulativen Apparats der Gesellschaft in der Form von Körperschaften, die Gesetze und Verordnungen erlassen; seine Lenkung der Gesellschaft mittels professionellen Gesetzgeber*innen, Armeen, Polizeikräften und Bürokratien.”1

Dasselbe gilt für “politische” Parteien. Parteien sind oft hierarchisch und top-down strukturiert, sozusagen eine Miniaturform eines Staates. Sie werden geschaffen, um zu mobilisieren, zu befehlen, Macht zu erlangen und zu regieren. “Somit sind sie so inorganisch wie der Staat selbst – ein Auswuchs der Gesellschaft, der keine wirklichen Wurzeln in ihr und keine Sensitivität für sie hat, abgesehen von den Anforderungen von Interessen, Macht und Mobilisation.”2

Politik – im wirklichen Sinn – ist im Gegensatz dazu für Bookchin ein “organisches Phänomen”. Politik ist nicht aufgesetzt, sondern die natürliche, organische Aktivität einer Öffentlichkeit, einer Gemeinschaft. Politik involviert: “rationaler Diskurs, öffentliche Ermächtigung, das Ausüben praktischer Vernunft und ihre Verwirklichung in einer geteilten, wahrhaft partizipatorischen Aktivität.”

Politische Bewegungen im authentischen Sinn entstehen aus dem Gemeinwesen heraus, aus den “Graswurzeln”. Ihre Programme mögen zwar von Theoretiker*innen formuliert werden, doch vor allem stammen sie aus den gelebten Erfahrungen und Traditionen der Öffentlichkeit selbst.3 Bookchin denkt beispielsweise an die volksverbundenen Landwirtschaftsbewegungen in den USA und im russischen Zarenreich oder an die anarchosyndikalistischen und landwirtschaftlichen Bewegungen in der Spanischen und Mexikanischen Revolution.

Soziale Sphäre, politische Sphäre, Staatswesen

Bookchin unterscheidet drei Sphären:

  • die soziale Sphäre (das Private, Familie, Freunde, Vereine, NGOs usw.)
  • die politische Sphäre (= die öffentliche Sphäre)
  • das Staatswesen

Diese drei Sphären müssen klar auseinandergehalten werden, um die sprachliche Verwirrung zu beenden. Wenn wir den Politikbegriff wieder zurückgewinnen wollen, müssen wir von den politisch mündigen Einwohner*innen4 und ihrer unmittelbaren Umgebung ausgehen: Sobald wir unsere private Sphäre verlassen und einen Fuss vor die eigene Haustür setzen, treten wir in die öffentliche Sphäre unserer unmittelbaren Community ein. “There can be no politics without community – Es gibt keine Politik ohne die Gemeinde”, sagt Bookchin.5 Mit “Community” meint er eine “munizipale Assoziation”, also alle Personen, die an einem Ort leben.

Damit eine Gemeinde “politisch” tätig sein kann, benötigt sie:

  • ihre eigene ökonomische Macht6;
  • ihre eigene Institutionalisierung der “Graswurzeln”;
  • die konföderale Unterstützung der benachbarten Gemeinden in einem territorialen Netzwerk auf lokaler und regionaler Ebene.

Die Kommune als die authentische politische Einheit

“Die authentische Einheit des politischen Lebens ist effektiv die Gemeinde, entweder als Ganzes, wenn sie nach menschlichen Massstäben skaliert ist, oder in ihren verschiedenen Unterteilungen, insbesondere die Nachbarschaft.” Nach Bookchin kann Politik nicht als Delegation von politischer Macht konzipiert werden – Demokratie, verstanden als Selbstverwaltung der Menschen, ist total unvereinbar mit der republikanischen Vision einer Herrschaft durch Repräsentant*innen. Um die Politik wieder zu den Menschen zurück zu bringen, müssten lokale Versammlungen (wieder) institutionalisiert werden, sei es in Form von Gemeindeversammlungen, sei es als Nachbarschafts- oder Block-Versammlungen in den Städten.

Murray Bookchin benennt seine Vision der politisch selbstermächtigten Gemeinden mit Begriffen wie libertärer Munizipalismus, Kommunalismus oder konföderaler Munizipalismus. (Ein weiterer Begriff wäre demokratischer Konföderalismus.) Er betont aber, dass er kein fertiges Programm oder Patentrezept vorlegt, sondern eine sich verändernde, formative Perspektive aufzeigen will: “Ein Konzept von Politik und Bürger*innenschaft (citizenship), um letztlich Städte und die urbane Megalopolis ethisch wie räumlich, politisch wie ökonomisch zu transformieren.”

Buch-Empfehlung: From Urbanization to Cities, www.akpress.org/fromurbanizationtocities-ebook.html


1 Murray Bookchin, From Urbanization to Cities, Neuauflage 2021, S. 255

2 Bookchin 2021, S. 256

3 Parteien hingegen drängen ihre Ideologien der Öffentlichkeit von aussen auf, während ihre Verbindungen zur Gesellschaft schwach und eher konzeptuell sind. Sie tendieren auch dazu, Institutionen, die von radikalen populären Bewegungen geschaffen worden sind, zu übernehmen und sie entlang staatlicher Linien umzugestalten, so geschehen in der Bolschewistischen Revolution 1917–1921, Bookchin 2021, S. 256f.

4 Bookchin verwendet hier das Wort citizen, Bürger*in, aber nicht im Sinn von Staatsbürger*in, sondern im ursprünglichen Sinn als politisch mündige*r Einwohner*in einer Stadt (city). Es wäre an der Zeit, das Wort Bürger*in, engl. citizen, frz. citoyen, wieder zu seinen kommunalistischen Wurzeln zurück zu bringen und von seiner „staatlichen“ Belastung zu befreien.

5 Bookchin 2021, S. 257

6 Ein aktuelles Beispiel für die Synergien von alternativer Ökonomie und politischer Selbstverwaltung ist Cooperation Jackson, cooperationjackson.org

Kategorien
Kommunalismus Munizipalismus

Fearless Cities – internationaler Kongress der munizipalistischen Bewegungen

Vom 5.-10. Juli 2021 findet der zweite internationale Kongress von “Fearless Cities”, der globalen munizipalisischen Bewegung, statt. Bereits haben sich über 800 Teilnehmende zu der Onlineveranstaltung angemeldet!

Munizipalismus hat 2015 für weltweites Aufsehen gesorgt, als munizipalistische Plattformen in Barcelona und anderen spanischen Städten die Wahlen gewannen. Munizipalismus wird aber seit Jahren auf der ganzen Welt gelebt, von Belgrad bis Valparaíso, von Athen bis Warschau, von Grenoble bis Belo Horizonte. Auch der Demokratische Konföderalismus in Kurdistan wird im Buch “Fearless Cities – A Guide to the Global Municipalist Movement” erwähnt.

Munizipal bedeutet soviel wie städtisch oder kommunal. Munizipalismus ist der Versuch, eine neue Art der Politik “von unten” zu schaffen. Bewusst wird die lokale Ebene als Ort dieser Politik gewählt: Die Menschen, die an einem Ort leben, sollen ihre Stadt, ihre Gemeinde selber verwalten.

Munizipalistische Städte versuchen, den Einflussbereich des Staates zurückzudrängen. Untereinander konföderalistisch vernetzt, stellen sie ein Gegenmodell zum Nationalstaat dar.

Munizipalistische Bewegungen nehmen an lokalen Wahlen teil, tun dies aber nicht in erster Linie, um die “Macht zu ergreifen” und dann soziale Reformen umzusetzen, sondern sie wollen das politische System grundlegend demokratisieren. Beim Ausarbeiten von Programmen oder beim Aufstellen von Wahllisten wird auf breite Partizipation gesetzt. In Barcelona beispielsweise haben Zehntausende daran mitgearbeitet.

Die Munizipalismen in den verschiedenen Städten unterscheiden sich alle voneinander. Einige sind sehr radikal, manchmal sogar direkt oder indirekt beeinflusst vom “libertären Munizipalismus” von Murray Bookchin, andere sind eher moderat. Es gibt aber einige Merkmale, die alle teilen:

  • Bürger*innen gewinnen die Macht zurück, dort wo sie leben.
  • eng eingebunden in soziale Bewegugen wie z. B. “Recht auf Stadt”, Black Lives Matter usw.
  • Radikale Demokratie, Partizipation, Versammlungen (assemblies) werden angestrebt
  • Feminisierung der Politik
  • Kooperation statt Konkurrenz
  • Care steht im Vordergrund
  • Re-Munizipalisierung von städtischen Werken (Bildung, Wohnraum, Verkehr, Wasser, Strom …)
  • Kooperativen werden gefördert, Demokratisierung der Wirtschaft, Kapitalismus überwinden
  • gegen Gentrifizierung und Privatisierung
  • Ein Ziel ist, der Macht der Grosskonzerte entgegenzuwirken (Uber, AirBnB, Amazon) und den Abfluss (Extraktion) von kommunalem Reichtum zu vermindern.
  • Wohnungsnot bekämpfen
  • Ungleichheit zwischen Quartieren verringern
  • globale Solidarität zwischen Städten

Die Themen am diesjährigen Kongress von “Fearless Cities” sind u.a.:

Stadt versus Staat (mit Debbie Bookchin)

Feminismus und Demokratie

Antirassistische Partizipation

Stadtplanung: eine feministische Stadt

soziale Segregation in Quartieren

“Cities taking care of the planet”: eine lokale Wirtschaft, die Sorge für Menschen und den Planeten ins Zentrum stellt

Munizipalismus und das bedigungslose Grundeinkommen – was sind die Gemeinsamkeiten?

Transformation des Care-Systems

Das Recht auf Wohnung

Demokratische Repräsentation vom Quartier bis zur metropolitanen Ebene

Dual Power

Munizipalismus in Europa: eine Chance, die soziale und politische Krise anzugehen?

Den öffentlichen Raum zurückerobern: Was, wenn Städte für Menschen designed wären statt für Autos?

Sind Lobbys allmächtig?

Können wir florieren ohne Wirtschaftswachstum? (degrowth, green growth und donut economics)

Festung Europa (mit Lokalpolitiker*innen aus Lampedusa, Lesbos)

Ist eine munizipalistische Polizei möglich?

Anmeldung zum Kongress ist noch bis Sonntag möglich: www.fearlesscities.com

Kurzer allgemeiner Text über Munizipalismus: http://unitedexplanations.org/english/2016/01/18/what-is-municipalism-and-why-is-it-gaining-presence-in-spain/

Das Netzwerk für Kommunalismus wird über die Ergebnisse des Kongresses berichten.